Nachrichten für Mit-Denker
Ernst Trummer, 28.6.2023
Dieser Text ist in leicht gekürzter Fassung in der „Wiener Zeitung“ vom 1.6.2023 erschienen
„Wir leben in einer schwierigen Zeit, es läuft gerade eine militärische Spezialoperation. Deshalb, liebe Frauen, liebe Jungfamilien, bemüht euch, jenes Leben zu erhalten, dass euch der Herrgott geschenkt hat.“ Es spricht ein junger russischer Soldat in voller Kampfmontur, irgendwo auf freiem Feld. Die Stimmung ist aufgeräumt, zwei Kameraden stehen bei ihm. Die Message – „Kein Grund zur Sorge, wir machen hier nur unseren Job!“ Die russische Anti-Abtreibungsplattform „Für das Leben!“ hat den jungen Mann um eine passende Wortspende für ihre aktuelle Kampagne vor die Kamera gebeten. Er habe selbst erst kürzlich erfahren, dass er Vater wird, sagt der junge Soldat. „Ein Leben auszulöschen, ist einfach. Aber es zu erhalten ist sehr schwer. Deshalb, Leute, versucht es zu erhalten. Wenn euch der Herrgott so ein Glück geschenkt hat, dann erhaltet dieses Kind, liebt es und passt gut auf es auf.“
Dass solche Worte ausgerechnet aus dem Mund eines Soldaten im Kriegseinsatz befremdlich wirken könnten, scheint die Macher der Kampagne nicht weiter zu irritieren. Im Gegenteil, auf unterschiedlich gestalteten Plakatserien vertiefen sie das Sujet noch. Die gestalterische Umsetzung ist einheitlich: auf der linken Plakatseite der Bauch einer Schwangeren, darüber eine Ultraschallaufnahme von einem Fötus, rechts dann zum Beispiel ein salutierender Knabe in Militäruniform oder ein junger Mann in voller Kampfmontur. In den insgesamt 13 Versionen dieser Serie sind elf Knaben bzw. junge Männer sowie zwei Mädchen oder junge Frauen zu sehen. Allesamt treten sie in einem militärischen Kontext auf, der männliche Part als Soldat oder Matrose, der weibliche einmal als Feld-Krankenschwester und einmal als Ärztin. Und dazu die Textbotschaft: „Beschütze du mich HEUTE, damit ich dich MORGEN beschützen kann.“
Wer sich also dazu entscheidet, ein Kind zu gebären, so die Botschaft der Kampagne, der leistet einen wertvollen Beitrag für den Erhalt der Wehrfähigkeit der Heimat. Derartige Parolen hat es auch in unseren Breiten schon einmal gegeben. Vor knapp 90 Jahren, 1935, gründete der Reichsführer SS Heinrich Himmler den Verein „Lebensborn“, der im Deutschen Reich und den von ihm besetzten Gebieten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs rund 20 Gebär- und Erziehungsheime betrieb. In diesen Einrichtungen konnten schwangere Frauen ihre unehelichen Kinder anonym zur Welt bringen – sofern sie selbst von arischem Blut waren. Durch die so verhinderten Schwangerschaftsabbrüche sollten dem Führer Tausende stramme junge Deutsche geschenkt werden, die sonst nicht ausgetragen worden wären.
Auch wenn die russische Propaganda den ideologischen Sondermüll der Nationalsozialisten zum Glück nicht übernommen hat: Es ist und bleibt eine der großen Perversionen dieses Krieges, dass ausgerechnet der so stolze Bezwinger Hitler-Deutschlands augenscheinlich keine Berührungsängste mit dem Gedankengut der Nazis hat. Das ist einmal mehr gerade in diesen Tagen zu konstatieren, da das offizielle Russland sich wieder einmal als strahlende Siegerin im Zweiten Weltkrieg stilisiert.
Die demographische Entwicklung in Russland nimmt schon seit Jahren einen ungünstigen Verlauf. Unabhängige Demographen gehen davon aus, dass die Geburtenrate im laufenden Jahr um bis zu 10% gegenüber 2022 fallen könnte – es wäre der stärkste Rückgang seit dem Ende der Sowjetunion. Generell ist die Gesellschaft deutlich überaltert, die Lebenserwartung hinkt im Vergleich zu anderen entwickelten Ländern merklich hinterher. So ist die russische Bevölkerungszahl im vergangenen Jahr um über eine halbe Million gesunken. Das macht sich vor allem auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Die Arbeitsmigration ist seit der Corona-Pandemie stark rückläufig. Die Politik versucht hier schon seit längerem vergeblich gegenzusteuern. Vor allem in den strukturschwachen Regionen jenseits des Ural-Gebirges gehen die Behörden dazu über, vermehrt Häftlinge zum Arbeitseinsatz im zivilen Sektor abzukommandieren. Sie kommen vor allem bei großen nationalen Infrastrukturprojekten zum Einsatz, wie etwa bei der Modernisierung der ostsibirischen Baikal-Amur-Magistrale, einem Nebenstrang der Transsibirischen Eisenbahn. Aber das ist keine Lösung, die das Problem an der Wurzel packt.
Der Kreml hat deshalb größtes Interesse an einer nachhaltigen Erhöhung der Geburtenrate. Noch sind Abtreibungen in Russland bis zur 12. Schwangerschaftswoche legal und kostenlos. Öffentliche Werbung für Schwangerschaftsabbrüche ist aber seit 2013 verboten. Und der gesellschaftliche Druck nimmt weiter zu. Das russische Gesundheitsministerium hat bereits vor fünf Jahren einen verbindlichen Leitfaden erarbeitet, mit dessen Hilfe das medizinische Personal seine Arbeit in der Schwangerenberatung entsprechend neu ausrichten und die angehenden Mütter zur Austragung ihres Kindes animieren soll.
Geht es nach der russisch-orthodoxen Kirche, ist die Lage ohnehin klar. Wie der Vorsitzende der kirchlichen „Kommission für Familienangelegenheiten, Mutterschutz und Kindeswohl“, Fjodor Lukjanow, es sieht, muss der Staat klarmachen, „dass er Schwangerschaftsabbrüche als eine negative, asoziale und inhumane Erscheinung betrachtet, die dem reproduktiven Potential und der Gesundheit unseres Volkes schadet.“
Bevor Wladimir Putin letzten September die Teilmobilmachung unter den wehrfähigen Männern ausrief, hatte er noch schnell ein Dekret über die Einführung des Ehrentitels „Mutter-Heldin“ erlassen. Auch hier wieder – keine Scheu vor der Assoziation mit Hitlers „Mutterkreuz“. Anspruchsberechtigt: alle Bürgerinnen der russischen Föderation, die mindestens zehn Kinder zur Welt gebracht und aufgezogen haben. Und weil man von einem Ehrentitel allein nicht leben kann, gibt es zusätzlich eine Einmalzahlung in Höhe von einer Million Rubel, was aktuell ungefähr dem Wert von 17 durchschnittlichen Monatsgehältern entspricht. Im historischen Kontext betrachtet mag Putins Ukas fast als legislative Verzweiflungstat erscheinen: Der Ehrentitel „Mutter-Heldin“ stammt ursprünglich aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der Oberste Sowjet hatte ihn im Juli 1944 eingeführt, um die horrenden Verluste in der Bevölkerung infolge der Kriegshandlungen wettzumachen. Diese Erklärung ist übrigens keine freie Interpretation, sondern die offizielle Deutung der amtlichen russischen Nachrichtenagentur TASS. Für den Kreml natürlich kein besonders erfreulicher Präzedenzfall.
Unter den ersten Empfängerinnen dieser besonderen Auszeichnung war übrigens die Gattin von Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow. Sie ist Mutter von insgesamt zwölf Kindern, darunter vier Buben, von denen drei, im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, bereits in der Ukraine kämpfen. Behauptet zumindest der stolze Herr Papa.
Quellen:
https://vk.com/wall-93739533_91338
https://tass.ru/obschestvo/16890723
https://www.currenttime.tv/a/reproduktivnoe-davlenie-na-zhenshin-na-fone-voiny/32401803.html
https://www.agents.media/demografia-prognoz/
https://www.currenttime.tv/a/putin-vpervye-prisvoil-zvaniya-mat-geroinya/32130197.html
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