GULAG sticht IKEA

Ernst Trummer, eine Kurzfassung dieses Artikels ist in der „Wiener Zeitung“ in der Ausgabe vom 8./9.4.2023 erschienen

Während die russische Wirtschaft aufgrund der Sanktionen infolge des Ukraine-Kriegs insgesamt in eine Rezession geraten ist, gibt es zwei Branchen, die auch in der Krise großes Potenzial haben: die Rüstungsindustrie und das Gefängnis- und Straflagersystem, das in seinen krakenförmigen Dimensionen auch über 30 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion immer noch an den berüchtigten Archipel GULAG erinnert. Kann eine forcierte „prison economy“ die Talfahrt der russischen Wirtschaft bremsen?

Am 12. August 2021 nahm Minister Sergej Schoigu die offizielle Eröffnung der Sanierungsarbeiten an einem 340 km langen Teilabschnitt der Baikal-Amur-Magistrale (BAM), einem nördlichen Seitenstrang der Transsibirischen Eisenbahn, vor. Schoigu hatte auch damals schon sein heutiges Amt als Verteidigungsminister inne – was hatte er also mit einem Eisenbahnprojekt zu schaffen? Das kam so: Die russische Armee unterhält ein eigenes Kontingent an Eisenbahnpionieren, die für den Bau, die Reparatur oder den Schutz von Schieneninfrastruktur ausgebildet sind und über die entsprechende technische Ausrüstung verfügen. In Friedenszeiten kommen diese Spezialkräfte vor allem dort zum Einsatz, wo die Arbeitsbedingungen besonders herausfordernd sind – und die BAM ist geradezu ein Paradebeispiel eines Mammut-Projekts unter widrigsten geologischen und klimatischen Bedingungen. Dazu kommt der akute Arbeitskräftemangel, der in der dünn besiedelten Region herrscht und der aufgrund des Ausbleibens von Arbeitsmigranten als Folge der COVID-Pandemie noch weiter verschärft wurde. Zum Zeitpunkt der Eröffnungsfeierlichkeiten für das Bahnprojekt waren neben Schoigus Eisenbahnsoldaten noch keine Zivilisten in größerer Zahl auf den Baustellen aktiv.

Bis 2024, so der Plan, soll die erste Etappe des Projekts abgeschlossen sein, bis 2030 der Endausbau erfolgen. Die Russische Eisenbahn RZhD hatte dafür schon früh ein viel beworbenes Rekrutierungsprogramm mit der Losung BAM 2.0 lanciert, das potenziellen Arbeitnehmern neben überdurchschnittlichen Löhnen noch zahlreiche attraktive Vergünstigungen in Aussicht stellte. Die Resonanz allerdings war äußerst bescheiden, die Anwerbungen blieben weit hinter den Planzahlen zurück: zu viel Taiga und Tundra, zu wenig Tanz und Theater. 

Der Ausbau der Bahnstrecken in Ostsibirien genießt im Kreml oberste Priorität. Seit die Warenströme von und nach Europa aufgrund der gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen allmählich versiegen, gewinnen alternative Handelsrouten immer mehr an Bedeutung. Besonders die Anbindung an den asiatisch-pazifischen Raum spielt für den sanktionsbedingten Umbau der russischen Wirtschaft eine herausragende Rolle. Die Regierung plant eine deutliche Steigerung des Gütertransportaufkommens auf den Ostrouten, von 158 Mio t im Jahr 2022 auf 173 Mio t heuer. 

Die Mobilmachung für den Krieg in der Ukraine, die seit Ende September vergangenen Jahres läuft, hat den chronischen Arbeitskräftemangel zusätzlich verschärft. So äußerte die RZhD schon bald die Befürchtung, ihre Partnerfirmen auf den Baustellen könnten bis zu 60% ihrer Arbeitskräfte an die russische Armee verlieren, und forderte deshalb die Politik auf, hier entsprechend gegenzusteuern. 

Schon im Frühjahr 2021 häuften sich Berichte in den Medien, wonach die Eisenbahnverwaltung auf den Baulosen ihrer Ostbahnstrecken unter anderem auch auf die Dienstleistungen des Bundesamtes für Strafvollzug FSIN zurückgreifen werde. Die Idee dahinter: die einzelnen Regionalableger der obersten Gefängnisverwaltung sollten als Subauftragnehmer auf den Baustellen aushelfen oder als Personaldienstleister die erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. 

Spekulationen, dass der Kreml versucht sein könnte, für die Umsetzung großer Infrastrukturprojekte Anleihen am sowjetischen System der organisierten Zwangsarbeit zu nehmen, gibt es schon länger. Die historischen Parallelen liegen auf der Hand: Die Baikal-Amur-Magistrale war eines der größten Infrastrukturvorhaben der noch jungen Sowjetunion. 1932 gründete die OGPU, eine der Vorläuferorganisationen, aus denen der heutige Geheimdienst FSB hervorging, eine eigens für den Bau der BAM zuständige Straflager-Verwaltung, die als „BAMLag“ in das unionsumspannende System GULAG (Abkürzung für „Hauptverwaltung für Lager“) integriert wurde. Gegen Ende der 1930-er Jahre arbeiteten bis zu einer Viertelmillion Häftlinge gleichzeitig auf den Baustellen der Magistrale, insgesamt schufteten rund zwei Millionen Zwangsarbeiter für die BAMLag. 

Vom rein juristischen Standpunkt betrachtet ist die Sache eindeutig, der Arbeitseinsatz von verurteilten Straftätern rechtlich gedeckt. Das Bundesamt für Strafvollzug FSIN beruft sich auf die herrschende Rechtsordnung und führt dabei hehre Motive ins Treffen: „Die Arbeit der Verurteilten dient nicht dem Ziel, Gewinne zu erwirtschaften, sondern sie wird lediglich als Mittel betrachtet, die Häftlinge zu läutern und ihnen eine Beschäftigung und eine berufliche Ausbildung zu bieten.“ Außerdem könnten die Sträflinge durch das mit ihrer Arbeit verdiente Geld für den Schaden aufkommen, den sie durch ihre kriminellen Handlungen der Gesellschaft und ihren Opfern zugefügt hätten. Insgesamt verwaltet das FSIN Produktionsstätten in 652 landesweiten Einrichtungen mit zuletzt 131.000 Insassen, die zur Arbeitsleistung verpflichtet waren (laut offiziellen Zahlen für das Jahr 2021).

Weitaus mehr öffentliche Sichtbarkeit als beim Einsatz auf Megabaustellen in der sibirischen Einöde bekommt das russische Zwangsarbeitsregime in den Segmenten Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitsleistung aus dem Strafvollzug und rein ziviler Wertschöpfung. Das zeigt sich besonders anschaulich bei den diversen landesweiten Ausstellungen und Jahrmärkten, auf denen die Regionalverwaltungen des FSIN ihre Erzeugnisse anbieten. 

In der Stadt Magadan beispielsweise, unweit des Polarkreises am Ochotskischen Meer, wurde Anfang Juli 2022 eine derartige Ausstellung verschiedenster Produkte aus den Werkstätten der regionalen Haftanstalten und Arbeitslager organisiert. Ob von den Verantwortlichen intendiert oder nicht – die Wahl des Ausstellungsorts Magadan, einstmals Verwaltungszentrum des berüchtigten Straflagerbezirks Kolyma, der unter den Häftlingen den Ruf eines “Auschwitz ohne Öfen” hatte, kann auch als Sinnbild für die Expansionsbestrebungen der russischen Häftlingswirtschaft gelesen werden. 

Beim Publikum stieß die Ausstellung jedenfalls auf reges Interesse. Ausschlaggebend dafür seien laut einem Bericht der Lokalpresse die hohe Qualität der Waren und die erschwinglichen Preise. Die Besucher konnten dabei aus einem umfangreichen Warensortiment wählen und sogar individuelle Bestellwünsche deponieren. 

Der Online-Katalog auf der Website des Bundesamts für Strafvollzug listet über 9.000 Einträge zu geschätzt rund eintausend verschiedenen Produkten auf – alle mit Foto und den entsprechenden Kontaktdaten zu der jeweiligen Haftanstalt, in der die betreffenden Artikel hergestellt werden. 

Angeboten wird eine breite Palette an unterschiedlichsten Waren: Nähereierzeugnisse und Textilien wie Bettwäsche, Handtücher, Uniformen für verschiedene Behörden, diverse Arbeitskleidung und Schutzausrüstung, weiters landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel (Kartoffel, Mehl, Getreide, Milch, Brot und Bäckereierzeugnisse, Teigwaren, Fleisch- und Wurstwaren), Erzeugnisse aus der Metallverarbeitung (Werkzeugkästen, Zäune und Tore aus Schmiedeeisen, Stahltüren, Fahrradständer, Stahlrohrbetten) und ein umfangreiches Möbelsortiment (Schränke, Schreibtische, Küchen, Stühle). Dazu noch Gartenbänke, Hollywoodschaukeln, Korbwaren, Sägewerks- und Hobelware, Brennholz, Holzkohle, Baumaterialien, PVC-Fenster und -Türen, Kunsthandwerk (Schmuckschatullen, Schachbretter und -figuren, Ikonen) und schließlich Ausrüstungsgegenstände für das Militär wie Schlafsäcke, Stiefel, Mützen und Uniformen für Soldaten.

Das FSIN hat laut eigenen Angaben im Jahr 2021 im Zusammenspiel mit verschiedenen Behörden auf allen Verwaltungsebenen sowie „außenstehenden Organisationen“ (gemeint sind wohl private Unternehmen) einen Waren- und Dienstleistungsumsatz von 36,8 Mrd Rubel erzielt. Der durchschnittliche Arbeitslohn der Sträflinge habe sich dabei auf 6.142,- Rubel pro Monat belaufen, was knapp 11% des durchschnittlichen Monatslohns eines russischen Arbeitnehmers im Jahr 2021 entsprach. 

Die russische Regierung scheint den Trend zur Kapitalisierung der Wertschöpfung aus Zwangsarbeit weiter forcieren zu wollen. Im April 2021 hat sie ein Reformkonzept für das Strafvollzugssystem ausgearbeitet, das unter anderem den Ausbau sogenannter Läuterungszentren vorsieht. Die russischen Gerichte gehen nämlich vermehrt dazu über, Zwangsarbeit anstelle von Freiheitsstrafen zu verhängen. Laut dem Regierungspapier hätten rund 182.000 Verurteilte grundsätzlich Anspruch auf eine Haftersatzstrafe in Form von Arbeitsleistung in solchen Läuterungszentren. Allerdings fehlt es an den nötigen Kapazitäten im Vollzugssystem, weshalb die Verurteilten auch im Zivilsektor zur Arbeitsleistung eingeteilt werden sollen, wo sie gemäß Regierungsplan etwa auf Großbaustellen oder zur Behebung von Umweltschäden in der Polarregion eingesetzt werden könnten.  

Gar elf Mal schon hat Jekaterinburg, Russlands Metropole im Ural, eine Ausstellung von Erzeugnissen aus den Werkstätten der Straflager ausgerichtet, die anlässlich des Besuchs hochrangiger FSIN-Funktionäre und lokaler Politgrößen zu einer Leistungsschau der russischen Gefängniswirtschaft geriet. Rund 30 Lager aus 7 russischen Regionen präsentierten dort ihre Produkte einem interessierten Publikum. 

Die Straflager in der von Jekaterinburg verwalteten Oblast Swerdlowsk bündeln ihre Kapazitäten vor allem im Bereich Möbelbau. Nach Einschätzung der Regionalverwaltung hat dieser Sektor ein großes Entwicklungspotenzial mit guten Gewinnaussichten. So meldete Aleksandr Lewtschenko, der Pressesprecher der Verwaltung, letzten Juli einen Erlös von über 400 Mio Rubel aus der Möbelproduktion im ersten Halbjahr 2022, bei weiter stark steigenden Umsatzerwartungen. Die Euphorie unter den Beamten der Behörde ist groß, Iwan Scharkow, Leiter der Abteilung Arbeitsverwendung, ließ sich gegenüber einer Lokalzeitung sogar zu der Prognose hinreißen, dass man schon bald den Platz des schwedischen Möbelgiganten IKEA einnehmen werde, der sich wegen des Ukraine-Kriegs vom russischen Markt zurückgezogen hat. „Wenn wir die Möbel vergleichen, dann haben wir die bessere Qualität und die niedrigeren Preise“, so Scharkow selbstbewusst. 

Geschäftsleute und Funktionäre wie etwa Anatolij Filippenko, Präsident des Regionalverbands für kleine und mittelständische Betriebe in der Oblast Swerdlowsk, wittern bereits das große Geschäft. Dem Wirtschaftsblatt Kommersant verriet Filippenko, dass die erstaunlich wertig produzierten Möbel an Zwischenhändler geliefert werden, von denen sie den Stempel „Made in Italy“ verpasst bekommen, um dann schließlich um den doppelten Preis bei den Endverbrauchern zu landen. Man ahnt, dass solche Margen schnell Begehrlichkeiten wecken.

Auch wenn es keine Hinweise darauf gibt, dass die russische Regierung in ihrem Strafvollzugssystem ein ausbeuterisches Sklavenarbeitsregime wie in den finstersten Sowjetzeiten etablieren will, ist eine gehörige Portion Argwohn gegenüber Russlands boomender prison economy angebracht. Der Menschenrechtsaktivist Lew Ponomarjow, dem Ende 2020 die zweifelhafte Ehre zuteil wurde, als erste physische Person auf die Liste der „Ausländischen Agenten“ des russischen Justizministeriums gesetzt zu werden, glaubt nicht wirklich daran, dass sich die Behörden bei der Nutzbarmachung der Sträflingsarbeit an die offiziellen Regeln halten werden. Gerade bei Großprojekten wie der Modernisierung der BAM, bei dem nach Jahren der Säumigkeit alles dem Erreichen der ambitionierten Ziele untergeordnet wird, wird kaum jemand so genau wissen wollen, ob die Rechte der Häftlinge auch wirklich gewahrt werden. Außerdem, so Ponomarjow, sei bei derartigen Projekten immer damit zu rechnen, dass die involvierten Seiten die Regeln stets zu ihrem eigenen Vorteil auslegen. Es gebe ja schon jede Menge Korruption in der Freiheit, aber hinter Gittern sei das Problem noch um ein Vielfaches größer. 

Abgesehen von allen menschenrechtlichen Fragwürdigkeiten, mit denen eine solcherart forcierte prison economy zwangsläufig einhergeht, ortete Andrej Kolesnikow vom Carnegie Moscow Center in einem Interview mit TV Rain aus dem Jahr 2021 auch ein Revival der spätsowjetischen Apparatschik-Denkweise: „Je größer das Projekt ist, und je mehr Geld hineingepumpt wird, desto rentabler wird es. Dass sich so etwas aber auch einmal nicht rechnen kann, macht kaum jemandem Sorgen.“

Quellen:

https://vgudok.com/lenta/bessoyuznaya-stroyka-rzhd-holding-ne-mozhet-nayti-rabochie-kadry-dlya-modernizacii-bama-i

https://transportrussia.ru/razdely/transportnaya-infrastruktura/9182-vektor-prioritetov-gruzy-edut-na-vostok.html

https://www.kommersant.ru/doc/5593471

https://vgudok.com/lenta/bim-dlya-bam-rzhd-obeshchayut-modernizirovat-vostochnyy-poligon-rukami-programmistov-voennyh

https://www.kommersant.ru/doc/4791351

https://fsin.gov.ru/structure/adaptation/

https://bessmertnybarak.ru/article/osventsim_bez_pechey/

https://kolyma.ru/news/obshestvo/108528-vystavka-produkcii-vypuskaemoy-uchrezhdeniyami-ufsin-proshla-v-ramkah-yarmarki-vyhodnogo-dnya.html

https://fsin.gov.ru/structure/adaptation/folder4/

https://fsin.gov.ru/structure/adaptation/ https://gogov.ru/articles/average-salary

http://actual.pravo.gov.ru/text.html#pnum=0001202105050004

https://www.oblgazeta.ru/economics/137432/

https://www.oblgazeta.ru/economics/137432/ 

https://www.kommersant.ru/doc/5481713

https://www.mk.ru/social/2021/04/26/pravozashhitnik-ocenil-ideyu-privlekat-zaklyuchennykh-na-bam-budet-rabskiy-trud.html

https://tvrain.tv/teleshow/vechernee_shou/bam-528948/

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