Leben. Kämpfen. Siegen. Wie die russische Armee ihre Soldaten auf den Einsatz in der Ukraine vorbereitet. Teil 1/2

Ernst Trummer, 14.11.2022  

Der Vestnik Vojennowo Obrasovanija (zu Deutsch etwa “Der Militärausbildungs-Bote”) ist eine offizielle Publikationsreihe des russischen Verteidigungsministeriums. Als praktische Handreichung für den Überlebenskampf an der Front wurde eine Broschüre mit dem Titel “Ich lebe, ich kämpfe, ich siege” herausgegeben. Sie soll russische Rekruten auf ihren Einsatz in der Ukraine vorbereiten.

Das Autorenkollektiv weiß, wovon es spricht: Seine „Regeln vom Leben im Krieg“, so der Untertitel des schmalen, rund 60-seitigen Bandes,  basieren auf den Empfehlungen von Veteranen der Kriege in Afghanistan, im Nordkaukasus und in der Ukraine. Und der Text macht gleich zu Beginn klar, worum es in der Ukraine geht. Ja, es handle sich aus völkerrechtlicher Perspektive tatsächlich nur um eine „militärische Spezialoperation“, aber für jene, die an ihr teilnehmen, sei es „ein echter Krieg“, mit allem, was dazugehört – Blut und Schmerzen, Verlust und Leid, aber schließlich auch Siegesfreude.

Der ideologische Hintergrund für die Spezialoperation wird auch gleich abgesteckt. Man müsse nur sehen, welche Länder „Sanktionen gegen uns verhängt haben und dem ukrainischen Regime helfen – Deutschland, Polen, Tschechien, Kroatien, Norwegen, Dänemark, Japan, Italien… Sie alle haben schon einmal gegen uns gekämpft. Heute wollen sie sich in der Ukraine an Russland rächen für unseren Großen Sieg [im Zweiten Weltkrieg]. Für uns ist das also die Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Und wir sind, wie unsere Großväter im Jahr 45, dazu verpflichtet zu siegen.“

Dann wird erklärt, wieso dieser Kampf ausgerechnet in der Ukraine stattfindet: „Die Ukraine als Staat gibt es nicht, es gibt nur das Gebiet der ehemaligen USSR [Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik], die vorübergehend von einer Terrorbande besetzt wurde. Die gesamte Macht ist dort in den Händen von Bürgern Israels, der USA und Großbritanniens konzentriert, die einen Genozid an der einheimischen Bevölkerung begangen haben, und diese in der Zeit der ‚Unabhängigkeit‘ um 20 Millionen Menschen ‚geschrumpft‘ haben. Um zu überleben, müssen die Menschen dort, wie einst die Neger in den USA, auf den europäischen Plantagen arbeiten. Die Freudenhäuser in Europa sind voll mit jungen Ukrainerinnen. Die Männer müssen gegen Russland kämpfen.“

Einmal kräftig durchatmen, und weiter geht’s: „Diesen Krieg wollen die USA und Europa bis zum letzten Ukrainer weiterführen. Die Menschen sind ihnen egal. Sie brauchen das Land und seine Ressourcen. Und dasselbe haben sie mit uns vor. Deshalb verteidigen wir Russland, wenn wir in der Ukraine kämpfen, und wir retten die Bewohner der Ukraine vor dem Genozid, den die ukrainischen und europäischen Politiker entfesselt haben.“

Überhaupt – wer sind diese Ukrainer eigentlich? „Noch bis vor kurzem waren 96,7% der Ukrainer Russen. Aber 30 Jahre ihrer sogenannten Unabhängigkeit haben sie jeglicher normaler Bildung, Kultur und Muttersprache beraubt und sie zu ‚verwilderten‘ Russenhassern gemacht.“ Die Verfasser der Fibel räumen aber durchaus ein, dass die Ukrainer ein zäher Gegner sind. Sie führen dies darauf zurück, dass die ukrainischen Kämpfer noch im Geiste der Heldentaten ihrer Großväter im Zweiten Weltkrieg erzogen worden seien. Tapfere Kämpfer seien sie, „standhaft in der Verteidigung, verwegen im Vorstoß. Irgendwann einmal, nach der Entnazifizierung, werden sie wieder Russen sein, aber jetzt sind sie Feinde. Grausame und heimtückische Feinde.“

Nach dieser ideologisch-propagandistischen Grundimprägnierung folgen für den Leser der Fibel dann im Mittelteil allerlei praktische Tipps und Empfehlungen im täglichen Überlebenskampf. Die sind auch bitter nötig, denn die ukrainischen Kämpfer, vom Westen seit 30 Jahren auf den Krieg gegen Russland vorbereitet, wüssten sehr wohl, dass sie „im ehrlichen Kampf uns nicht besiegen können“. Deshalb bedienten sie sich einer gemeinen Strategie nach dem Vorbild der „Hitler-Kämpfer“, versteckten sich in zivilen Einrichtungen, schlügen aus dem Hinterhalt zu und nähmen dann wieder Deckung in Wohnhäusern, Fabriken oder Geschäften.

Generell, so die Autoren, würden sich die Kampfhandlungen in der Ukraine wesentlich von den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien unterscheiden. Weil beide Seiten über ein reiches Arsenal an schweren Waffen verfügten, erinnere das Geschehen mehr an den Zweiten Weltkrieg. 78% aller gefallenen Soldaten seien Opfer von Granatsplittern, 12% seien erschossen, 10% durch Minen getötet worden. Bis zu 40% aller Verluste seien gar nicht das Resultat direkter Kampfhandlungen, sondern gingen auf das Konto von „friendly fire“ infolge fehlender Kommunikation zwischen den verschiedenen Einheiten oder von Unfällen bei Truppentransporten. Dazu kämen noch unsachgemäßes Hantieren mit der Waffe, Krankheiten und Vergiftungen durch Alkoholersatzmittel. Man muss nicht unbedingt mit militärisch-taktischem Fachwissen geschlagen sein, um sich über den ersten praktischen Ratschlag der Verfasser dieses Leitfadens zu wundern: „Helm und Splitterschutzweste verdoppeln die Überlebenschancen.“ Sollten sich unter den russischen Zwangsrekrutierten tatsächlich Männer befinden, die solche Empfehlungen nötig haben, dann dürften die Autoren mit ihrer Assoziation zum Zweiten Weltkrieg gar nicht so danebenliegen. Nur dass da eher Erinnerungen an den Volkssturm aus den letzten Wochen des Drittens Reichs geweckt werden… 

Die Qualität der im weiteren Verlauf des Textes erteilten Ratschläge bleibt auf ähnlich bescheidenem Niveau: größere Ansammlungen von Truppen oder Kriegsgerät vermeiden, wenn schon in Kolonnen vorgerückt werden muss, dann aufgeteilt in Kleingruppen, Fahrzeuge halten mindestens 20-30 m Abstand zueinander – „das reduziert massive Verluste durch Präzisionswaffen um 90%“. Jeder Kommandeur, der diese Regeln missachtet, sei „ein Dummkopf und Schädling“. Weiters: eingraben, auch wenn eine Stellung nur vorübergehend eingenommen werde, ständiges Beobachten der Lage, und: Selbstorganisation – jede Fahrzeugbesatzung müsse eine „eigenständige taktische Einheit werden, welche die Bewachung, Tarnung, technische Versorgung, pioniertechnische Ausstattung der Position sowie die Verpflegung und die Ruhezeiten der Soldaten gewährleistet.“

Auch für die Kommandeure im Feld haben die Autoren Wissenswertes zu bieten. Ihre Hauptaufgabe sei es, nicht nur den Kampfeinsatz zu leiten, sondern auch den Alltag und die Beziehungen innerhalb der Einheit zu managen. Um ein guter Kommandeur zu werden, sei es daher notwendig, den Kampfbullen in sich zu bändigen und den Fixer, den Problemlöser, in den Vordergrund treten zu lassen. Zu viel Ausrüstung sei hinderlich, nötig nur das, was man brauche, um seinen Mann zu stehen, alles andere verleite nur dazu, der Versuchung zu erliegen, den Feind im Alleingang zu versenken. „Was ein Kommandeur wirklich braucht, sind ein Satz Reservebatterien für den Funkempfänger, ein gutes Fernglas, ein GPS-Navigationsgerät, ein Laser-Entfernungsmesser, ein Wärmebild-Monokular und die entsprechenden Ladegeräte dazu.“ Denn: „Das Verteidigungsministerium stellt diese Gadgets nicht zur Verfügung, deshalb erwirbt sie der Kommandeur selbst. Es wird Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass ein Kommandeur, so wie jeder andere Profi, sich um seine persönlichen Arbeitsmittel selbst zu kümmern hat.“

Ein interessanter Ansatz, der vielleicht auch für viele chronisch unterfinanzierte Streitkräfte im Westen eine Überlegung wert ist. Aber ernsthaft: Nach fast neun Monaten Krieg und rund eineinhalb Monaten Mobilmachung, über deren logistische und ausrüstungstechnische Probleme es mittlerweile gut dokumentierte Berichte und zahllose Klagen gibt, bleibt in diesem Zusammenhang nur noch eine grundsätzliche Frage: woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Quelle:

https://vvo.ric.mil.ru/Rekomenduem

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Fortsetzung folgt in Teil 2/2

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