Nachrichten für Mit-Denker
Ernst Trummer, 24.10.2022
Gruz 200 (gesprochen Gruz dvesti, das „z“ wird als stimmhaftes „s“ artikuliert wie in „Zagreb“) – wörtlich „Fracht 200“ – bezeichnet den in einer Holzkiste und/oder einem Zinkcontainer transportierten Leichnam eines gefallenen Soldaten. Dementsprechend ist dann der dvuchsotyj (“der Zweihunderter”) der Gefallene selbst.
Das Online-Lexikon academic.ru referenziert die Herkunft des Begriffs auf den Afghanistan-Krieg der Sowjetunion 1979-1989, wobei der eigentliche Ursprung nicht ganz eindeutig ist. Eine mögliche Erklärung ist, dass die gesamte Ladung, also die Kiste mit dem Leichnam samt Zinkcontainer, ein Gewicht von durchschnittlich rund 200 kg aufwies, was für die logistische Planung solcher Transporte eine wichtige Berechnungsgröße darstellte. Die andere Deutung leitet den Terminus von einem standardisierten Formular ab („Formular Nr. 200“), das dem zu transportierenden Leichnam als Begleitpapier mitgegeben wurde.
Ursprünglich im rein militärischen Kontext verwendet, wird die Bezeichnung Gruz 200 nach Angaben des Bestattungsunternehmens Ritual in Moskau heutzutage auch im zivilen Bereich verwendet und bezeichnet demnach die Überstellung eines Verstorbenen in eine andere Stadt oder ein anderes Land, unabhängig von der Art des Transportmittels. Das gelte auch für den Transport von Urnen mit der Asche von Verstorbenen (mosritual.ru).
Die Bezeichnung Gruz 200 als Abstrahierung eines Gefallenen auf sein verpacktes Transportgewicht oder als nach Formular kategorisiertes Stückgut stellt natürlich einen krassen Zynismus dar. Es verwundert nicht, dass die ukrainische Propaganda von diesem Begriff reichlich Gebrauch macht und ihn meist herabwürdigend verwendet. Mir ist jedenfalls kein Fall bekannt, wo die Ukraine diesen Begriff auf eigene gefallene Soldaten anwendet, trotz seiner Wurzeln in der gemeinsamen Sowjetzeit und trotz des Umstands, dass der Begriff damals – makaber hin oder her – neutral konnotiert war (was wiederum auch etwas seltsam anmutet).
Die Russen titulieren ihrerseits die Opfer auf der Gegenseite bevorzugt als (Neo-)Nazis oder Banderovtsy (Bandera-Leute), ein Begriff, dem wir bei Gelegenheit einen eigenen Eintrag in unserem Glossar widmen werden. Und eigene getötete Soldaten sind für Moskau in diesem Krieg bislang überhaupt kein Thema.
Gruz 200 ist auch der Titel eines Films des russischen Regisseurs Alexej Balabanov aus dem Jahr 2007. Der Streifen schildert in äußerst drastischen Bildern einen Kriminalfall in der russischen Provinz in der zweiten Hälfte des Jahres 1984, als die alte erstarrte Ordnung in der Sowjetunion schon deutliche Auflösungserscheinungen zeigte. Generalsekretär Jurij Andropov war im Februar 1984 verstorben, ihm folgte für ein knapp einjähriges Intermezzo der greise Konstantin Tschernenko nach, ehe im März 1985 der vergleichsweise junge Michail Gorbatschow das Ruder übernahm und das Land und seine Gesellschaft mit Glasnost und Perestrojka zu modernisieren versuchte. Die Schrecken des Afghanistan-Kriegs und der titelgebende Topos sind nur ein relativ unbedeutender Nebenstrang in der Handlung des Films, wirken aber thematisch stilprägend. Eine der stärksten Szenen spielt direkt auf dem Rollfeld des lokalen Flughafens: Kaum sind die Särge gefallener Afghanistan-Kämpfer aus dem Frachtraum einer Iljuschin entladen, stürmt eine Kompanie neuer Rekruten im Laufschritt in den Laderaum der Transportmaschine, die sie als frisches Kanonenfutter an die Front bringen wird:
https://www.youtube.com/watch?v=hHTXijeB4G0
Überhaupt liegt die Stärke des Films meiner Meinung nach weniger in der schwer verdaulichen Handlung der Geschichte selbst, als vielmehr in der bedrückenden atmosphärischen Dichte der Bilder. Viele Szenen stehen für sich allein genommen als große expressionistische Metaphern für existenzielle Fragen des Lebens – über Gott, nach dem Sinn, warum wir anderen Leid zufügen, oder pauschal über Schuld und Sühne. Definitiv kein Film für die ganze Familie, sondern sehr schwere Kost, die dennoch sehenswert ist und durch den Krieg in der Ukraine neue Aktualität gewinnt. Denn so wie sich 1984 das Ende der Sowjetunion bereits erahnen ließ, steht Russland heute ebenfalls vor einem Umbruch seiner bisherigen Ordnung.
ctb.ru
Wer der russischen Sprache mächtig ist, kann den Film hier in der Originalfassung auf der Seite des Studios CTB kostenlos ansehen:
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