„Gute Russen” mit politischen Ambitionen

Ernst Trummer, 23.12.2022  

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine haben sich zahlreiche regierungskritische Plattformen der russischen Diaspora gebildet. Über die bekanntesten von ihnen, die  sich vor allem über ihr karitatives Engagement definiert sehen wollen, haben wir bereits in einem früheren Beitrag berichtet. Daneben gibt es auch rein politische Initiativen, die zuletzt vermehrt auf sich aufmerksam machten.

Die bekannteste politische Bewegung der Exil-Russen ist der sogenannte „Kongress der Volksdeputierten“, der Anfang November im polnischen Jablonna, einem Vorort von Warschau, zu seiner konstituierenden Versammlung zusammentrat. Der Kongress, gegründet von 59 russischen Abgeordneten verschiedenster regionaler und kommunaler Volksvertretungsorgane, bereitet sich auf seine Rolle als Übergangsparlament ab dem Tag vor, an dem Wladimir Putins Herrschaft endet. Die Delegierten wollen nicht einfach tatenlos auf den Tag X warten, sondern sich gezielt darauf vorbereiten, um am Tag eins nach Putin politische Verantwortung zu übernehmen und den Boden für eine demokratische Erneuerung Russlands zu bereiten. Seine Rolle beschreibt der Kongress offiziell so: „Demokratie und Recht darf man nicht auf später verschieben. Demokratie und Recht beginnen hier und jetzt, und gemeinsam mit ihnen beginnt hier und jetzt das neue Freie Russland. Und es ist so, dass jene,welche die Legitimation dazu haben, den ersten Stein in das Fundament unserer Zukunft zu legen, einer Zukunft ohne Krieg und Tyrannei, dies nicht nur tun können, sondern sogar dazu verpflichtet sind, es zu tun.” 

Die hier angesprochene Legitimation ziehen die Delegierten aus dem Umstand, dass sie alle in der Vergangenheit bei diversen Wahlen ein Mandat von ihren Wählern bekommen haben. Der Schönheitsfehler dabei – diese Mandate sind längst abgelaufen, was nach Ansicht der Proponenten des Kongresses aber darauf zurückzuführen ist, dass das politische System in Russland nach den ersten freien Parlamentswahlen ab Anfang der 2000-er Jahre immer repressiver wurde. Viele Duma-Abgeordnete der ersten Legislaturperioden sind mit der Zeit gezielt aus dem politischen Wettbewerb gedrängt worden, wenn sie sich gegen Putin und seine Marionettenparteien positionierten. Die Duma ist so mit den Jahren zu einem rückgratlosen Jubelverein für den russischen Präsidenten nach chinesischem Vorbild verkommen. Als Putin 2014 die Halbinsel Krim annektieren ließ, gab es in der Duma nur einen einzigen Abgeordneten, der gegen diesen Bruch des Völkerrechts votierte – Ilja Ponomarjow, heute eines der prominenten Gesichter im Kongress der Volksdeputierten.

Im Gespräch mit dem Youtube-Kanal Zhivoj Gvozd kontert die Aktivistin und Rechtsexpertin Jelena Lukjanowa den Vorwurf der fehlenden Legitimation der Delegierten mit dem Hinweis, dass die offiziellen Repräsentanten der russischen Staatsorgane selbst auch nicht durch freie und faire Wahlen in Ihre Ämter gekommen sind und deshalb auch keine Legitimation haben. Und während es bei den russischen Parlamentswahlen zumindest bis zum Jahr 2003 noch gerecht zugegangen sei, konnten bei verschiedenen Urnengängen auf lokaler und kommunaler Ebene sogar noch bis vor kurzem oppositionelle demokratische Delegierte reüssieren, von denen sich einige nun für den neuen Kongress engagieren. 

Lukjanowa selbst ist keine Delegierte des Kongresses, sie übt als Juristin lediglich eine beratende Funktion aus. Sie sieht den Kongress als Plattform zur Ausarbeitung und Vorbereitung von Gesetzesinitiativen, die man am Tag X dringend benötigen werde. Und mit der Zeit „siegt die Vernunft und mehr Abgeordnete werden sich anschließen.“ Dann wird auch das Gewicht der Bewegung auf der internationalen Bühne zunehmen, denn derzeit wird der Kongress nur von der Ukraine und von Polen als legitime politische Stimme Russlands anerkannt.

Mark Fejgin ist das bekannteste Gesicht der Plattform. Der ehemalige Duma-Abgeordnete ist ausgebildeter Jurist, hat die Punk Band Pussy Riot vor Gericht vertreten und führt einen höchst erfolgreichen Youtube-Kanal mit über zwei Millionen Abonnenten. In seinem „Appell an die Bürger der Ukraine“, den Fejgin im Namen des Kongresses der Volksdeputierten formuliert hat, bittet er die „lieben Nachbarn“ um Entschuldigung für das politische Versagen der Putin-kritischen Kräfte in Russland: „Heute zahlt ihr einen gewaltigen Preis für eure Freiheit, weil wir in der Vergangenheit einen solchen Preis für unsere Freiheit nicht gezahlt haben. … Wir haben den Kampf angenommen. Spät. Nicht in der nötigen Zahl und nicht an allen Fronten. Aber zumindest können wir, die Teilnehmer des russischen Anti-Putin-Widerstands, euch in die Augen schauen. … Können wir die Diktatur besiegen und den Krieg beenden? Wir werden es versuchen. Und wenn es uns gelingt, dann versprechen wir, die besetzten Gebiete freizugeben und alle strittigen Fragen auf dem Verhandlungsweg zu klären. Nur ein demokratisches Russland, dass sich seiner imperialen Ambitionen entledigt hat, kann mit seinen Nachbarn in Frieden leben.“

Am anderen Ende des Spektrums der möglichen Erscheinungsformen des Typus guter Russe steht die Initiative „Graschdanskij Sowjet“ („Bürgerrat“ oder „Ziviler Rat“). Ihr geht es nicht um mildtätige Aktivitäten oder politisches Engagement, sie sucht gleich den bewaffneten Kampf gegen das herrschende Regime in Moskau. Die beiden Proponenten des Rats, Anastasia Sergejewa und Denis Sokolow, haben in einem Youtube-Video vor knapp acht Wochen die Bürger Russlands dazu aufgerufen, mit der Waffe in der Hand die russische Staatsmacht zu bekämpfen. 

Die Organisatoren des Bürgerrats haben ein Manifest veröffentlicht, in dem es u.a. heißt: „Wir wenden uns an jene Russen, die ein Ende des Kriegs in der Ukraine und eine legale Entmachtung jener Verbrecher wollen, die im Namen des russischen Staates auftreten. Wir wenden uns an jene, die verstehen, dass die Putins, Prigoschins und Kadyrows nicht von selbst gehen werden, und dass wir unsere eigenen Streitkräfte brauchen, die in einem für die Weltgemeinschaft nachvollziehbaren Rechtsrahmen agieren.” Diese Streitkräfte sollen den Vertretern der russischen Regionen und nationalen Republiken unter Einbeziehung der Emigration unterstehen. Die Auswahl der Vertreter solle durch den Bürgerrat nach den Prinzipien der Transparenz und Gleichberechtigung erfolgen. Des Weiteren ruft der Rat Menschenrechtsaktivisten dazu auf, ein Bürgertribunal als oberste judikative Instanz einzurichten, welches in einer Übergangsphase die Rechtsprechung ausüben solle. Wer sich zum bewaffneten Widerstand bereit erklärt, werde vom Bürgerrat entsprechend ausgerüstet und in Abstimmung mit den ukrainischen Streitkräften professionell ausgebildet. Die solcherart Rekrutierten würden in das Russische Freiwilligenkorps oder in eigene nationale Kampfgruppen innerhalb der ukrainischen Armee eingegliedert. Der Bürgerrat sucht aber auch Freiwillige für den Untergrundkampf innerhalb Russlands. 

Insgesamt will man in der Anfangsphase 200 Rekruten ausbilden, wofür die Organisatoren rund fünftausend Dollar pro Mann veranschlagen. Seit das Video online ist, gab es rund achteinhalbtausend Zugriffe darauf, wie viele dem Aufruf gefolgt sind und sich rekrutieren ließen, ist nicht bekannt, die Homepage der Initiative ist derzeit nicht erreichbar. Sergejewa, die Co-Initiatorin des Bürgerrats erklärte in einem Interview mit dem regierungskritischen russischen Online-Medium Cholod („Kälte”), dass man sich bei der organisatorischen Aufstellung der Freiwilligen-Armee am Vorbild des Kastus-Kalinouski-Regiments orientiere. Es handelt sich dabei um einen Verband von rund 500 belarussischen Freiwilligen, die bereits seit März auf Seiten der Ukraine gegen die russischen Besatzer kämpfen. Auch dort seien im Hintergrund starke Bürgerbewegungen und Vertreter der Diaspora aktiv. 

Den Führern der russischen Opposition wirft Sergejewa vor, dass sie zu wenig entschlossen gegen Putin auftreten und die praktischen Konsequenzen eines Machtwechsels zu wenig berücksichtigen: „Die Oppositionspolitiker glauben, dass Putin abtritt und dann gleich jemand anderer die volle Kontrolle über alles übernimmt. Mir scheint, sie bedenken nicht, dass es umso heftigere Ausbrüche von unkontrollierter Gewalt geben wird, je weniger Mittel und Ressourcen die Moskauer Zentralbehörden haben werden. Die Räume in den Regionen werden jene besetzen, die bereit sind, Gewalt anzuwenden. Ich denke, das ist nicht das beste Szenario. Wir wollen nicht, dass in Russland unkontrollierte, gewaltvolle Prozesse ablaufen. Wir müssen die Situation selbst unter Kontrolle bringen.”

Wie sich der Bürgerrat von Sergejewa und Sokolow entwickeln wird, bleibt abzuwarten, derzeit wird ihre Initiative noch mit einer gehörigen Portion Skepsis aufgenommen. Manche Kritiker stellen sogar die Frage in den Raum, ob es sich bei diesem Projekt nicht um eine verdeckte Aktion des russischen Geheimdienstes FSB handelt.

Die hier vorgestellten Initiativen stehen stellvertretend für noch viele weitere mehr oder weniger etablierte Projekte ähnlicher Zielsetzungen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie noch einen weiten Weg vor sich haben, wenn sie die Hirne und Herzen der Regimegegner in Russland und ihrer Sympathisanten im Westen erobern wollen. Aber am schwersten werden sie sich mit den Ukrainern selbst tun. In einem inspirierenden Gedankenaustausch mit der US-amerikanischen Historikerin Marci Shore, nachzulesen in Project Syndicate, bringt der ukrainische Schriftsteller und Professor für russische Philologe, Wolodymyr Rafejenko, die Abgründe in den Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern auf den Punkt:

„Meiner Ansicht nach liegt der grundlegende Systemfehler der russischen Kultur darin, dass sie sich bewusst außerhalb und über den allgemeinen menschlichen Werten positioniert hat. Die Russen glauben, dass sie nicht nach den für alle Menschen geltenden Regeln und Standards bewertet werden können und dürfen, und dass ihnen in diesem Sinn alles erlaubt ist. Moskau als das Dritte Rom – so haben sie sich gesehen. Und plötzlich stellt sich heraus, dass das nicht das Dritte Rom, sondern das Vierte Reich ist.”

 

Quellen:

https://rosdep.org/

https://rosdep.org/elena-lukyanova-pro-sezd-narodnyx-deputatov-na-zhivom-gvozde/

https://www.youtube.com/watch?v=0WFh9gaeoyg

https://holod.media/2022/11/05/civil-council-wants-to-fight/

https://www.project-syndicate.org/onpoint/ukraine-war-impact-on-russian-writer-by-volodymyr-rafeyenko-and-marci-shore-2022-06

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