Kinder im Krieg

Ernst Trummer, 21.4.2023 
Dieser Text wurde in deutlich gekürzter Fassung in Publikationen der Verlagsgruppe CH Media veröffentlicht

Der folgende Text basiert auf einem Interview, das ich mit Yevhen Mezhevoi via Facebook geführt habe.

Rund 20.000 Kinder wurden seit Beginn des Ukraine-Kriegs laut offiziellen Zahlen der amtlichen ukrainischen Plattform „Children of War“ von den Russen verschleppt. Keine 400 konnten bis heute zurückkehren. Ein betroffener Vater erzählt.

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Tag 14 nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine: Maria Lwowa-Belowa, die direkt dem Präsidenten unterstellte „Bevollmächtigte für Kinderrechte”, rapportiert eine erste Zwischenbilanz an Wladimir Putin. 1090 Waisenkinder aus verschiedenen Einrichtungen seien schon angekommen, und die für ihr großes Herz bekannten Bürger Russlands stünden bereits Schlange, um diese Kinder bei sich aufzunehmen. „Sehr gut“, meint Putin dazu knapp. Das russische Staatsfernsehen hat diese unappetitliche Szene in einem kurzen Clip festgehalten, der Kreml bringt Ausschnitte des Gesprächsprotokolls auf seiner Website. Eifrig berichtet Lwowa-Belowa, dass man schon Vorbereitungen getroffen habe, um Kinder mit russischer Staatsbürgerschaft rasch zur Adoption freizugeben. Da unterbricht Putin sie und meint, das solle doch mit jeder anderen Staatsbürgerschaft auch möglich sein. Die rechtlichen Schwierigkeiten, auf die Lwowa-Belowa verweist, spielt Putin herunter. Sie solle Vorschläge für eine neue gesetzliche Regelung machen, er sei sicher, dass die russischen Parlamentarier sich einer entsprechenden Initiative nicht widersetzen werden. 

Yevhen Mezhevoi hatte erst vor zwei Tagen ein kleines Café eröffnet, als der Krieg nach Mariupol kam. Er ist Ukrainer, 39 Jahre alt und nach einer Scheidung alleinerziehender Vater von drei halbwüchsigen Kindern. Wie viele andere ging auch er davon aus, dass die Kampfhandlungen nicht allzu lange andauern werden. So wie damals, 2014, als Putins Truppen aufseiten der pro-russischen Separatisten in den Donbass-Konflikt eingriffen. 

Bald wurde klar, dass es diesmal anders laufen würde. Am 7. April standen plötzlich russische Soldaten in dem Luftschutzbunker, in dem Yevhen gemeinsam mit seinen Kindern und anderen Zivilisten Zuflucht gesucht hatte. Jetzt sollten sie alle aus der unmittelbaren Kampfzone evakuiert werden. Mit einem Fahrzeug vom Katastrophenschutz wurden sie, 15-20 Leute – Kinder, Erwachsene, Alte – zu einem Checkpoint gebracht. Bei den Personenkontrollen fiel Yevhen mit seinem Armeeausweis auf. Er hatte sich nichts Schlimmes gedacht, aus dem Papier ging klar hervor, dass er seinen Militärdienst bereits abgeleistet hatte und nicht mehr in den Reihen der ukrainischen Armee stand. Die russischen Militärpolizisten wollen ihn jetzt aber genauer überprüfen. 

Damit beginnt für Yevhen eine siebenwöchige Tortur, in deren Verlauf er von seinen Kindern getrennt und in verschiedene Hafteinrichtungen gesteckt wird. Er wird misshandelt, in hoffnungslos überfüllten Zellen gehalten und zum Arbeitsdienst gezwungen, zuletzt in der berüchtigten ehemaligen Strafkolonie Oleniwka, unweit von Donezk. 

Yevhen, in all dieser Zeit – hatten Sie da Kontakt zu Ihren Kindern?

– Nein.

Wie haben sich die Kinder in dieser Situation zurechtgefunden? Haben sie verstanden, was mit ihrem Vater passiert ist? Hat ihnen irgendjemand ihre Lage erklärt? 

 – Nein. Das hat niemanden gekümmert. Die Bekannte, die ich gebeten hatte, auf meine Kinder aufzupassen, als wir getrennt wurden, ist auch nicht klargekommen mit der Situation. Sie sagten ihr, man hätte mich ins Gefängnis geworfen und ich würde erst in sieben Jahren wieder entlassen werden.

Das heißt, die Kinder wussten auch nicht, wohin man Sie gebracht hatte.

– Sie wussten nicht einmal, ob ich noch am Leben bin oder nicht.

Das muss eine immens belastende Situation für Ihre Kinder gewesen sein.

– Mein Sohn Matwej hat die Verantwortung übernommen. Er war damals zwölf, er hat auf seine Schwestern, sechs und acht Jahre alt, aufgepasst.

Die Kinder wurden nach der Trennung von ihrem Vater mit einer Gruppe anderer Kinder und Erwachsener zuerst in einem nahegelegenen Kulturzentrum untergebracht, wo sie aber praktisch sich selbst überlassen waren. Matwej kontaktiert über einen Messenger-Dienst Yevhens ehemaligen Chef in Armenien und bittet ihn um Hilfe. Der findet dank seiner Kontakte zumindest heraus, dass Yevhen noch lebt, was den Kindern schon einmal ein großer Trost ist. Sie schreiben jetzt Vermisstenanzeigen und affichieren sie auf den Straßen und Plätzen in der Umgebung. Solche Anzeigen waren damals gang und gäbe. 

Bald wird die Lage im Kulturzentrum für die Geschwister untragbar, ihr Aufenthalt ohne Angehörige ist der Leiterin ein Dorn im Auge, sie will eine Lösung und informiert die Behörden. Matwej und seine beiden Schwestern werden ins nächstgelegene Krankenhaus in Nowoasowsk überstellt, wo sie für weitere rund zwei Wochen untergebracht sind. Ab da bekamen die Dinge eine unerwartete Wendung.

Am 26. Mai wurden die Kinder vom Krankenhaus nach Donezk überstellt und am nächsten Tag um fünf Uhr in der Früh nach Rostow gebracht. Von dort ging es mit einem Charterflug direkt nach Moskau. Im Flugzeug waren 31 Kinder und ein paar Erwachsene, die Maschine war nicht voll besetzt.

– Diese paar Erwachsenen – waren das Angehörige?

Nein.An dieser Stelle schaltet sich Yevhens Tochter kurz in unser Gespräch ein: Da waren ein Militär-Kapitän, noch ein Kapitän, eine Stewardess und ein Mädchen mit einer Behinderung.

– Und hat man euch zuvor gesagt, wohin man euch bringt? Hat man euch erklärt, was man mit euch vorhat? Hat man euch eine Wahl gelassen?

Auf dem Weg nach Donezk haben sie uns gesagt, sie bringen uns in ein Lager, dort sind schon andere Kinder mit denselben Problemen wie wir sie haben. Und als wir dann schon im Flugzeug waren, haben sie gesagt, wir fliegen nach Moskau.

– Und wie habt ihr das aufgenommen?

Wir hatten keine Wahl…

– Yevhen, wenn Sie heute zurückblicken, haben Sie da den Eindruck, dass das alles geplant war, oder haben sich die Ereignisse mehr oder weniger zufällig ergeben?

Mein Eindruck ist, dass das geplant war. Sie haben genau gewusst, dass ich am 26. Mai aus dem Gefängnis entlassen werde.

– Wen meinen Sie mit „sie“?

Diejenigen, die die Kinder weggebracht haben. Sie haben ja gar nicht nach Verwandten oder Angehörigen gesucht. Und dass ich im Gefängnis in Oleniwka sitze, haben sie auch gewusst.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis am Abend des 26. Mai machte sich Yevhen zu Fuß auf nach Donezk. Auf dem Weg geraten er und ein Zellengenosse unter Beschuss, sie retten sich in den Unterstand einer Bushaltestelle, wo sie die Nacht verbringen. In Donezk holt er dann seine Dokumente ab, die man ihm bei der Verhaftung abgenommen hatte. Ihm fällt gleich auf, dass die Geburtsurkunden seiner Kinder fehlen. Er solle deswegen keine Probleme machen, sonst komme er gleich wieder zurück ins Gefängnis, sagen sie ihm. Yevhen fügt sich und lässt sich eine Telefonnummer geben, unter der er sich nach seinen Kindern erkundigen könne. Als er anruft, heißt es, er müsse zurück nach Nowoasowsk und eine Eingabe machen. Dort füllt er Formulare aus, erklärt, wo er wohnen und arbeiten werde, und muss bestätigen, dass er sich loyal gegenüber der Volksrepublik Donezk verhalten werde. Dann bekommt er tatsächlich eine Telefonnummer. Sein Anruf landet direkt in dem Heim, in dem seine drei Kinder jetzt untergebracht waren.

Wo war dieses Heim?

– Im Umland von Moskau. Das war ein Kinderheim, das direkt vom Amt des Präsidenten der Russischen Föderation verwaltet wird.

Kurze Zeit später, es ist Tag 96 seit der Invasion, zeigt sich Lwowa-Belowa, die Kinderrechte-Bevollmächtigte, in Feierstimmung. In einer Videobotschaft überbringt sie die frohe Kunde: „Heute hat der Präsident ein Dekret über ein vereinfachtes Verfahren zur Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft für Waisenkinder und Kinder ohne elterliche Obsorge aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ukraine unterzeichnet.“ Der Präsident habe ihr Anliegen erhört, es gebe jetzt eine Lösung für die ganzen Probleme, mit denen „Kinder dieser Kategorie“ konfrontiert seien. Familiäre Unterbringung, soziale Garantien, Bildung, medizinische Versorgung – all das lasse sich nun viel leichter bewerkstelligen.

Auch Yevhens Kinder machen Bekanntschaft mit Lwowa-Belowa, sie taucht immer wieder einmal in dem Heim bei Moskau auf. Über sie kann Yevhen nichts Schlechtes berichten.

Sie trat dort wie eine Fee auf. Nach dem, was mir die Kinder erzählt haben, hat sie sich gut um sie gekümmert, hat sie gefragt, ob ihnen etwas fehlt, ob sie etwas brauchen. Von ihr haben die Kinder nichts Negatives gesehen – sagen wir so. Einmal ist sie gekommen und hat gefragt, ob jemand etwas braucht. Matwej hat ihr dann gesagt, dass er eine SIM-Karte braucht. „Wozu denn das?“ hat sie gefragt, und er sagt: „Ich will meinen Papa anrufen“. Und sie hat ihm dann tatsächlich eine SIM-Karte besorgt. 

Yevhen hat ab jetzt regelmäßig Kontakt mit den Kindern. Er geht davon aus, dass er sie bald wieder zurückbekommt. Er bemüht sich um Arbeit, kümmert sich um eine Wohnmöglichkeit für seine Familie. Sein Haus in Mariupol ist zerstört, er kommt bei Bekannten auf dem Land unter. Dann, eines Tages, wieder ein Anruf von Sohn Matwej. Es seien zwei Frauen ins Kinderheim gekommen, die sagten, ihr Aufenthalt hier gehe zu Ende, sie müssten woanders unterkommen. Aber in Donezk werde wieder geschossen, dorthin könnten sie nicht zurück. Also – entweder ein anderes Heim oder gleich zu einer Pflegefamilie.

Ich sage zu ihm: „Matwej, auf keinen Fall zu einer Pflegefamilie. Aus einem Heim bekomme ich euch viel leichter wieder heraus als aus einer Pflegefamilie.“

– Wann war das?

Das war um den 16. Juni.

– Also etwa 3 Wochen, nachdem die Kinder dort hingebracht worden waren.

Ja. Dann habe ich hier im Sozialamt angerufen, und die fangen an, mir zu erklären, dass das Unsinn ist, dass mein Sohn das sicher falsch verstanden hat. Und im Heim haben sie zuvor zu meinem Sohn auch gesagt: „Das wird nichts, dein Papa schafft das nicht. Du musst dich jetzt gleich entscheiden.“ Und Matwej sagt zu ihnen: „Bevor ich nicht mit meinem Papa gesprochen habe, entscheide ich gar nichts.“

Matwej meint dann noch, Yevhen müsse sich beeilen, mehr als fünf Tage werde er wohl nicht haben, wenn er sie holen möchte. Für Yevhen kommt es jetzt darauf an, schnellstmöglich Geld aufzutreiben und seine Reise nach Moskau zu organisieren. Über Umwege bekommt er einen Kontakt zu anonymen Helfern im russischen Untergrund, über die hier aus nachvollziehbaren Gründen keine Details berichtet werden sollen. Sie helfen ihm beim Grenzübertritt, bei der Routenplanung und seiner Unterbringung in Moskau am Tag vor dem Wiedersehen mit seinen Kindern.

Sein Kommen hat er der Heimleitung nicht angekündigt, lediglich sein Sohn war in die Pläne eingeweiht. Erst kurz vor seinem Eintreffen hat er über Vermittlung seiner anonymen Helfer Kontakt mit einem zuständigen Beamten in Moskau aufgenommen, der dann auch die Übergabe der Kinder überwachen wird. Auf die Vorhaltung des Beamten, Yevhen hätte sich doch früher bei ihm melden können, dann hätte man schon alles entsprechend vorbereiten können, geht er nicht ein. Der Beamte erscheint durchaus kooperativ, um Korrektheit bemüht. Yevhen vertraut diesen Leuten aber trotzdem nicht, er hat schon zu viel Negatives erlebt. 

Nachdem auch die von Moskau noch rasch eingeschalteten Behörden in Donezk keine Einwände haben, und der zwölfjährige Matwej im Heim noch eine schriftliche Erklärung abgegeben hat, dass er mit der Übergabe an seinen Papa einverstanden ist, ist es dann am 19. Juni endlich soweit – Yevhen Mezhevoi kann seine zwei Töchter und seinen Sohn wieder in die Arme schließen. Im Rückblick wurde ihm dann erst so richtig bewusst, wie wichtig es gewesen war, sich ohne zu zögern gleich auf den Weg nach Moskau zu machen. 

Als wir dann schon in Lettland waren, hat Matwej eine Nachricht von einem Buben bekommen, der mit ihm in diesem Heim war. Er sagte ihm, dass die Kinder gleich nach unserer Abreise alle zu verschiedenen Pflegefamilien gebracht worden sind. Er selbst war auch schon bei einer neuen Familie. 

Die Ausreise aus Russland schaffte Yevhen mit seinen Kindern auch wieder dank der Unterstützung seiner Helfer, eine Rückkehr in die freie Ukraine war aber ausgeschlossen. Zur Auswahl standen entweder Mariupol im russisch besetzten Donbass oder die lettische Hauptstadt Riga. Yevhen hat sich für Lettland entschieden. Er hat dort eine Wohnung zugeteilt bekommen, die Kinder gehen zur Schule, er selbst, eigentlich ausgebildeter Kranführer, macht derzeit eine Mechanikerausbildung. Für zumindest zwei Jahre können sie jetzt einmal im sicheren Riga bleiben. Das Geld ist immer knapp, er ist für jede Unterstützung dankbar. Aber das Schlimmste haben er und seine Kinder überstanden.

Am 17. März dieses Jahres, dem 387. Kriegstag, erlässt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa wegen der Verschleppung von ukrainischen Kindern. Das offizielle Russland zeigt sich unbeeindruckt, ein Prozess gegen Wladimir Putin wäre nur im Falle einer Auslieferung möglich. Bei Slobodan Milosevic glaubte damals auch keiner, dass das jemals passieren würde.

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