„Die Regime wechseln, aber die Länder und die Völker bleiben“

Ernst Trummer, 16.12.2022  

Vom schwierigen Verhältnis zwischen der Ukraine und der russischen Opposition.

Wer sich mit der russischen Opposition speziell in der Zeit nach dem 24. Februar 2022 näher beschäftigt und deren vielfältige Erscheinungsformen studiert, mag sich schnell zu der Annahme verleitet sehen, dass sie von der ukrainischen Öffentlichkeit als ihr natürlicher Verbündeter im Kampf gegen Putins autoritäres Regime angesehen wird. Dem ist aber keineswegs so. Wie wir schon in unserem Beitrag über das Phänomen des guten Russen gezeigt haben, reagieren die Ukrainer äußerst skeptisch auf jegliche Avancen von russischer Seite, sich mit ihnen zu solidarisieren. 

Das Verhältnis zwischen den Lagern ist von einer großen Portion Misstrauen geprägt, die ukrainische Seite urteilt (zu) streng und (zu) kategorisch. Einer, der das auch so sieht, ist der russische Journalist und Menschenrechtsaktivist Aleksandr Podrabinek. In seinem hier vorgestellten Artikel für svoboda.org appelliert er bei der Bewertung der Geschehnisse für eine klare Trennung zwischen der russischen Staatsmacht und jenem Teil der russischen Gesellschaft, der in Opposition zu Wladimir Putin steht. 

Podrabineks Beitrag bildet den Auftakt zu einer Serie von Texten, die wir hier vorstellen wollen, weil sie sich von unterschiedlichen Positionen aus diesem schwierigen Thema annähern.

Wenn das Zielvisier verstellt ist. Aleksandr Podrabinek über die Wahl des Ziels.

30.6.2022

https://www.svoboda.org/a/esli-sbit-pritsel-aleksandr-podrabinek—o-vybore-tseli/31919664.html

Übersetzung: Ernst Trummer

Wenn bei Ihrer Waffe das Zielvisier verstellt ist, werden Sie Ihr Ziel höchstwahrscheinlich nicht treffen. Das ist ein Axiom und bedarf keiner weiteren Beweisführung. Wenn Sie im Krieg Ihren Feind nicht dort sehen, wo er tatsächlich ist, sondern dort, wo ihn zu sehen für Sie bequemer oder angenehmer ist, werden sich Ihre Chancen, diesen Krieg zu gewinnen, deutlich verringern. Ein schlecht eingestelltes Visier führt im besten Fall zu einer sinnlosen Verschwendung von Ressourcen – und im schlimmsten Fall in den Untergang.

Ich möchte gleich vorweg klarstellen: In diesem Krieg bin ich an einem Sieg der Ukraine um nichts weniger interessiert als die Ukrainer selbst. Sogar mehr, weil abgesehen vom Triumph der Gerechtigkeit im Falle eines Sieges der Ukraine in Russland die Chance für einen Sturz des autoritären Putin-Regimes und für die Wiedererrichtung der Demokratie zunimmt. Die Chance ist nicht besonders groß, aber sie ist da. Und das ist immerhin mehr als nichts, was dann der Fall wäre, wenn die Ukraine verlieren sollte.

Das ukrainische Visier ist deshalb ungenau eingestellt, weil als Ziel ganz Russland und nicht das Putin-Regime ausgewählt ist. Das ist zwar in Kriegszeiten eine verständliche Simplifizierung, aber es gebiert doch viel Unverständnis, sinnlosen Hass und falsche Schlussfolgerungen. So ist es beispielsweise dumm zu glauben, dass Ukrainer unter den Bedingungen einer Diktatur sich grundsätzlich anders verhalten als Russen, nur weil den Ukrainern vielleicht die Freiheitsliebe eigen ist und den Russen eine angeborene Unterwürfigkeit. Eine so lächerlich dumme Annahme lässt sich allein durch zwei sehr einfache Beispiele widerlegen: In den acht Jahren, in denen die Krim jetzt schon besetzt ist, hat die ukrainische Bevölkerung der Halbinsel nicht nur nicht mit der Waffe in der Hand gegen das Putin-Regime aufbegehrt, sondern hat auch keinen friedlichen Protest gezeigt. Lediglich die Krimtataren haben ganz zu Beginn der Besatzung zu protestieren versucht, wofür viele von ihnen dann auch mit ihrer Freiheit bezahlt haben. Das ist jetzt kein Vorwurf an die Krim-Ukrainer, sondern es geht darum zu verstehen, dass ein despotisches Regime jeden zivilen Widerstand sofort und dauerhaft unterdrückt. Unter den Bedingungen einer Diktatur verhalten sich alle mehr oder weniger gleich.

Das andere Beispiel ist die ukrainische Diaspora in Russland. Rund dreieinhalb bis vier Millionen Bürger der Ukraine verdienen ihr Geld in Russland. Aber sie gehen in Moskau oder anderswo in den Städten auch nicht auf die Straße, um für die Verteidigung ihres Vaterlandes zu demonstrieren. So wie die Russen selbst verstehen sie sehr gut, wie so etwas im autoritären Russland endet. Auch hier gilt: Das ist kein Vorwurf von mangelndem Patriotismus aufseiten unaufgeklärter Ukrainer, sondern es soll nur zeigen, wie die heutige Diktatur von Wladimir Putin funktioniert. 

Auch kann man natürlich das Aufflammen von Aversionen gegenüber jeglichem Russischem im Bewusstsein der Massen verstehen. Aber wenn kluge und erfahrene Journalisten schreiben, dass „die Russen als staatsbildende Nation Feinde” sind, dann ist das eine klare Übertreibung und Heuchelei. Dieselben Journalisten haben sich in den alten Zeiten des Sozialismus wunderbar in den sowjetischen Kontext eingefügt und hatten gar kein Problem damit, dass sie in der Sowjetunion lebten und sich die Verantwortung mit einer „staatsbildenden Nation” teilten.

Die Pauschalierung des Feindes in Gestalt eines ganzen Landes erleichtert natürlich die Propaganda und hält den gegenseitigen Hass auf dem nötigen Level. In Kriegszeiten ist das bequem, aber wenn man ein wenig nach vorne schaut, so erweist sich ein solcher Zugang als kontraproduktiv.  Russen und Ukrainer sind nun einmal dazu verdammt, Seite an Seite zu leben. Und in verständnisvollem Miteinander zu leben ist besser, als in gegenseitigem Hass. Klar, dieses gegenseitige Verständnis können die Ukrainer mit den derzeitigen russischen Machthabern nicht erreichen, aber man muss eben auch sehen, dass Macht und Volk nicht dasselbe sind. Die tollwütige russische Soldateska in den besetzten ukrainischen Städten ist auch kein Abbild des ganzen Volkes. Ja, die russische Staatsmacht hat zu Gewalt aufgerufen und dem Bodensatz der russischen Gesellschaft freie Hand bei seinen Verbrechen gelassen, aber erstens ist das nicht das ganze russische Volk, und zweitens gilt das nicht bis in alle Ewigkeit. Die Regime wechseln, aber die Länder und die Völker bleiben. Das Kalkül von Dmitri Medwedew, dass die Ukraine in zwei Jahren von der Weltkarte verschwunden ist, ist genauso unbedarft wie die Wahnvorstellungen einiger Ukrainer, dass nach Ende des Krieges anstelle Russlands nur noch ein weißer Fleck ohne Staat und ohne Bevölkerung übrig bleibt. Das wird nicht passieren. Russland und die Ukraine werden Nachbarstaaten bleiben. 

Die wichtigste Frage ist, was für Staaten das sein werden. Das demokratische Potential der Ukraine heute ist wesentlich größer als das Russlands, Gott sei es gedankt. Aber bei einem derartigen Potentialunterschied sind Spannungen zwischen den Staaten unausweichlich. Eine Despotie wird immer bestrebt sein, die Demokratie zu schlucken. Sich vor der Despotie abzuschotten ist unmöglich, sie ist der natürliche Feind ihrer Nachbarn. Der einzige Ausweg ist ein demokratischer Umbau. Nur so können Demokratien die ständige Bedrohung ihrer Grenzen vermeiden. 

Manch ein Politiker kann sich für simple Varianten erwärmen – einfach eine solide Mauer bauen und sich so gegen den Problem-Nachbarn abgrenzen: „Macht was ihr wollt, aber kommt nicht zu uns herüber.” Einfach, aber nicht sehr effektiv. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben sehr eindrücklich gezeigt, dass totalitäre Regime immer zur Expansion neigen. Sobald es ihnen gelingt, ihr militärisches Potential zu erhöhen, fallen sie über andere Länder her – in der Regel ihre Nachbarn. 

Welcher Schluß ist daraus zu ziehen? Zielt genau!Der Feind der Ukraine ist nicht Russland, sondern sein autoritäres Regime unter der Führung seines „Präsidenten” Wladimir Putin. Dieses Regime ist nicht nur feindselig gegenüber der heutigen Ukraine eingestellt, sondern auch gegenüber den demokratischen Elementen der russischen Gesellschaft. Im Bund mit den Gegnern der Diktatur kann man mehr erreichen. Klar, bis zur Bruderliebe ist es noch ein weiter Weg, aber in Frieden und Sicherheit zu leben, sollte möglich sein.

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