Russlands Opposition auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung

Ernst Trummer, 5.5.2023  

Die Front der Ablehnung von Wladimir Putins Politik ist zwar breit, eine geschlossene Opposition gegen den Kreml gibt es aber nicht. Die Geister scheiden sich vor allem an der Frage, wie das Regime zu überwinden wäre und die neue Ordnung aussehen soll.

Die Front der Ablehnung von Wladimir Putins Politik ist zwar breit, eine geschlossene Opposition gegen den Kreml gibt es aber nicht. Die Geister scheiden sich vor allem an der Frage, wie das Regime zu überwinden wäre und die neue Ordnung aussehen soll. Auch von ukrainischer Seite wird die russische Oppositionsbewegung mit Misstrauen beobachtet, obwohl beide Seiten im Kreml-Herrn einen gemeinsamen Feind haben.

Ein Mann wie Alexei Nawalny gilt zwar im Westen als der große Hoffnungsträger für ein demokratisches Russland, aber Kritiker halten ihm eine nationalistische Grundhaltung, ein fragwürdiges Verhältnis gegenüber ethnischen Minderheiten und eine Kreml-treue Position im Georgien-Krieg 2008 vor. Auch die Krim-Annexion 2014 hatte Nawalny ursprünglich als politische Tatsache hingenommen und eine Rückgabe der Halbinsel als praktisch illusorisch ausgeschlossen. Mittlerweile hat er seine Haltung revidiert und die Anerkennung der Ukraine in ihren Grenzen zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeitserklärung 1991 gefordert.

Ein nicht weniger bekannter Name unter Russlands Oppositionellen ist Michail Chodorkowski, bekannt als einer der ersten Oligarchen nach dem Zerfall der Sowjetunion und erster prominenter politischer Gefangener Putins. Heute bekämpft er dessen Herrschaftssystem aus dem Exil heraus und engagiert sich gleich in mehreren Initiativen. Dass sich die Uneinigkeit der Opposition in einem zuletzt offenen Disput zwischen dem einflussreichen Netzwerker Chodorkowski und Nawalny als dem Hoffnungsträger des von ihm selbst proklamierten „Wunderbaren Russland der Zukunft“ manifestierte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Nawalny wirft Chodorkowski vor, einen zwielichtigen Mitstreiter für seine Bewegung rekrutiert zu haben, der bis zuletzt im Putin-Lager aktiv war und an der Verfolgung einer Mitarbeiterin aus dem lokalen Nawalny-Team in Ufa beteiligt gewesen ist. Chodorkowski meint, man brauche eben erfahrene Leute für eine erfolgreiche Politik, und sofern diese keine Untaten begangen hätten, könne man sie auch von der Gegenseite abwerben. Wer anderes behaupte, verfolge eher das Geschäftsmodell einer Sekte denn einer politischen Bewegung. Nawalny hält dem entgegen, dass diese Taktik schon in der Vergangenheit nicht funktioniert habe, als Chodorkowski im Wahlkampf 2016 aktiv Leute unterstützt habe, die später wieder ins Regierungslager zurückgewechselt sind. 

Freilich übersieht Nawalny dabei, dass sein bis zuletzt propagiertes Konzept des „Smart Voting“ genauso dem Prinzip der „Realpolitik“ huldigte. Dabei ging es darum, bei Wahlgängen überall dort, wo die eigenen Kandidaten nicht antreten konnten oder keine Aussicht auf Erfolg hatten, aktiv jene Bewerber zu promoten, welche die größten Chancen im Kampf gegen die Kreml-Partei Einiges Russland hatten. So half Nawalnys Bewegung aktiv mit, Nationalisten, Kommunisten und andere Kreml-Gegner ins Parlament zu hieven – mit dem Effekt, dass diese Leute heute genauso den Krieg gegen die Ukraine unterstützen wie Einiges Russland, wie der Soziologe Igor Jakowenko bemerkt.

Einer, der die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will, ist der ehemalige Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow. „Mein Ziel ist die Demontage des Systems. Ich möchte nicht den schlechten Putin durch einen guten Putin ersetzen.“ Ponomarjow ist einer der Initiatoren des sogenannten Kongresses der Volksdeputierten. Gegründet von 59 Abgeordneten verschiedenster regionaler und kommunaler Volksvertretungsorgane, versucht sich das Gremium als Übergangsparlament für den Tag in Stellung zu bringen, an dem Putins Herrschaft endet. Jene, welche die Legitimation dazu hätten, das Fundament für eine neue Zukunft zu legen, hätten die moralische Verpflichtung, schon jetzt aktiv zu werden.  

Diese Legitimation ziehen die Delegierten des Kongresses aus dem Umstand, dass sie alle in der Vergangenheit bei diversen Wahlen ein Mandat erlangt haben. Der Schönheitsfehler dabei – diese Mandate sind längst abgelaufen. Das ist nach Ansicht der Proponenten des Kongresses dem Umstand geschuldet, dass das politische System in Russland ab Anfang der 2000-er Jahre immer repressiver wurde. So seien viele regierungskritische Duma-Abgeordnete der ersten Legislaturperioden mit der Zeit gezielt aus dem politischen Wettbewerb gedrängt worden. Die Rechtsexpertin Jelena Lukjanowa lässt den Vorwurf der fehlenden Legitimation nicht gelten und verweist darauf, dass die aktuellen Repräsentanten der russischen Staatsorgane selbst auch nicht durch freie und faire Wahlen in Ihre Ämter gekommen sind. 

Nach Einschätzung des Journalisten Harun Sidorow, eines profunden Kenners der russischen Oppositionsbewegung, hat der Kongress der Volksdeputierten drei Vorteile gegenüber den anderen Initiativen: Zum einen befinde sich sein Stab in der Ukraine, was ohne politische Rückendeckung aus Kiew nicht möglich wäre, zum anderen verfüge man mit der Legion Freiheit für Russland über einen eigenen bewaffneten Arm, der aktiv auf der Seite der ukrainischen Armee gegen die russischen Okkupanten kämpft. Und schließlich gebe sich der Kongress nicht mit der abstrakten Rolle einer Oppositionsbewegung zufrieden, sondern sei schon heute bereit, politische Verantwortung zu übernehmen.

Ilja Ponomarjow sieht im Kongress der Volksdeputierten die Verfechter unterschiedlichster politischer Konzepte repräsentiert, von Anhängern des gewaltfreien Widerstands bis zu deren Antipoden, die einen kontrollierten Einsatz von Gewalt für legitim halten. Ponomarjow selbst fühlt sich Letzteren zugehörig. Die Erfahrungen in Belarus nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im Sommer 2020 hätten gezeigt, dass sich die herrschende Elite von friedlichen Massenprotesten nicht beeindrucken lasse. 

Kritiker wenden ein, dass nach einem erfolgreichen bewaffneten Umsturz die Macht in aller Regel in den Händen der Aufständischen bleibt. Die Gefahr ist groß, dass diese einfach die Macht usurpieren und ihrerseits ein antidemokratisches System etablieren. Ponomarjow glaubt, dem vorbeugen zu können, indem ein Gremium wie der Kongress der Volksdeputierten schon vor dem Machtwechsel ein klares Regelwerk für die heikle Übergangsphase aufstellt. Alle politischen Kräfte hätten sich diesem Regelwerk zu unterwerfen, bis nach einer gewissen Phase der Konsolidierung eine neue Verfassung und eine neue demokratische Ordnung etabliert werden könne.

Die gespaltene russische Opposition ist sich des unvorteilhaften Bildes, das sie nach außen abgibt, durchaus bewusst. Es überrascht daher nicht, dass kürzlich bei einem Treffen von oppositionellen Rechtsexperten in Berlin Ende April eine „Deklaration der russischen demokratischen Kräfte” verabschiedet wurde, um diesem Eindruck der Uneinigkeit ein wenig entgegenzuwirken. Die Unterzeichner dieser Deklaration gelobten, „sich öffentlicher Konflikte in den demokratischen und Anti-Kriegs-Bewegungen zu enthalten”.

Ob eine solche „Waffenruhe” in der Sache etwas bewirkt, bleibt abzuwarten.

Quellen:

https://navalny.com/p/6634/

https://navalny.com/p/6638/

https://rosdep.org/

https://www.idelreal.org/a/32284979.html

https://meduza.io/news/2023/05/01/predstaviteli-oppozitsii-vstretilis-v-berline-i-prinyali-deklaratsiyu-rossiyskih-demokraticheskih-sil-storonniki-navalnogo-ne-prisoedinilis

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