Moskaus Krieg legt den Arbeitsmarkt lahm

Ernst Trummer, 26.2.2023  

Der Überfall auf die Ukraine und die aufgrund der schwachen Performance der Armee notwendig gewordene zusätzliche Mobilisierung von 300.000 neuen Rekruten haben schwerwiegende Folgen für die russische Wirtschaft.

Der russische Arbeitsmarkt musste im Vorjahr zwei große Fluchtwellen verkraften – eine in den ersten Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine, als zu befürchten war, dass Russland seine Grenzen schließen könnte, und die zweite nach der Ausrufung der Teilmobilmachung am 21.9.2022. Während der ersten Welle griffen Firmen, die angesichts der Ausmaße der Fluchtbewegungen sogar um ihren Bestand fürchten mussten, zu drastischen Mitteln, um ihre Mitarbeiter nicht zu verlieren. Das Wirtschaftsblatt Kommersant berichtet von Game-Entwicklern, die ganze Flugzeuge charterten, um ihre Spieledesigner samt deren Angehörigen aus Russland ausfliegen zu lassen. Viele dieser Firmen hatten bereits im Frühjahr, nachdem klar geworden war, dass die EU diesmal geschlossen hinter ihren Wirtschaftssanktionen stehen würde, Dependancen im benachbarten Ausland gegründet.

Der deutsch-amerikanische Ökonom Johannes Wachs, Assistant Professor an der WU Wien und Forscher am Science Complexity Hub Vienna, hat eine Methode entwickelt, mit der sich die Migrationsbewegung der russischen IT-Spezialisten recht verlässlich quantifizieren lässt. Wachs erforscht, wie Menschen in der modernen Arbeitswelt online kollaborieren. Mithilfe der Auswertung von Nutzerprofilen der Entwickler-Plattform GitHub kann er die Auswirkungen der Invasion in der Ukraine auf den russischen IT-Sektor zahlenmäßig einordnen. Wachs hat bereits Anfang 2021 damit begonnen, entsprechende Daten auf GitHub zu erheben, und hat diese dann im Juni und November des Vorjahres noch einmal abgeglichen. Aufgrund der von den GitHub-Nutzern eingemeldeten unterschiedlichen Standortdaten kommt Prof. Wachs zu dem Schluss, dass rund 20% der russischen IT-Fachleute Russland verlassen haben. Seine Auswertungen zeigen auch, „dass diejenigen, die gegangen sind, aktiver und zentraler im Kooperationsnetzwerk waren.“ Russland hat also nicht nur jeden Fünften seiner Entwickler verloren, sondern offenbar auch noch die Fähigsten von ihnen.

Das Jobportal superjob.ru hat eine Analyse über die Auswirkungen der „militärischen Spezialoperation“ auf den gesamten Arbeitsmarkt vorgenommen und stützt sich dabei auf eine Auswertung von 360.000 Lebensläufen für 15 unterschiedliche Berufsfelder zwischen März und Dezember 2022: Insgesamt lässt sich konstatieren, dass allein schon wegen der geburtenschwachen Jahrgänge der 1990-er Jahre wenig Bewegung auf dem Arbeitsmarkt herrscht. Dazu kommen die Effekte des Kriegs in der Ukraine – wer einen stabilen Arbeitsplatz hat, schaut sich seltener als sonst üblich nach einer besseren Alternative um. Und die Arbeitgeber überlegen es sich heute zweimal, bevor sie Personal freisetzen. Dazu kommen Verschiebungen zwischen den Geschlechtern zugunsten der Frauen, vor allem in jenen Berufen, die eine wenig ausgeprägte physische Komponente haben. In Vertriebsjobs haben die Frauen jetzt erstmals ein leichtes Übergewicht von 51% aller Stellengesuche (im März waren es noch 45%).

Das durchschnittliche Alter der männlichen Bewerber ist je nach Branche um bis zu drei Jahre gestiegen – eine direkte Folge dessen, dass der prozentuale Anteil der Jobsuchenden unter 45 Jahren geschrumpft ist. Der Grund: Männer im Einberufungsalter sind derzeit weniger wechselwillig, vor allem, wenn sie aufgrund ihrer aktuellen Arbeit von der Mobilmachung ausgenommen sind oder einen sicheren Arbeitsplatz haben. Das Fazit der Experten bei Superjob: „Die Demografie und die militärische Spezialoperation überwinden die Geschlechter- und Altersdiskriminierung schneller als sämtliche einschlägigen gesetzgeberischen Anstrengungen zusammengenommen, und das passiert ausschließlich wegen des Mangels an Arbeitskräften.“

Eine verlässliche und detaillierte Statistik, wie viele Menschen die Russische Föderation wegen des Kriegs dauerhaft verlassen haben, liegt nicht vor. Die Rechercheplattform The Bell hat unter Auswertung sämtlicher auch international verfügbarer Daten versucht, die Anzahl der Emigranten wenigstens annäherungsweise zu eruieren und ist dabei auf eine Zahl von mindestens 512.000 Personen gekommen. 

Dass das wahrscheinlich eher zu tief gegriffen ist, zeigt eine andere Zahl: Die amtliche Statistikbehörde Rosstat hat erhoben, dass allein im ersten Halbjahr 2022 insgesamt 454.000 Menschen das Land verlassen haben, wobei das nicht alles russische Staatsbürger gewesen sein müssen: Nach dem 24. Februar haben auch Tausende ausländische Staatsbürger, die für ausländische Firmen in Russland arbeiteten, dem Land den Rücken gekehrt. Für den Arbeitsmarkt macht das aber keinen Unterschied.  Das ist das Anderthalbfache jener Zahl von Menschen, die in der vergangenen Dekade jeweils innerhalb eines ganzen Jahres für immer ausgereist sind. 

Sicher, der Arbeits- und Fachkräftemangel ist keine alleinige Folge des Krieges, vielmehr hat dieser bereits vorhandene Tendenzen verstärkt. Allen voran ist hier eine ungünstige demografische Entwicklung zu nennen. Laut Jekaterina Schtscherbakowa von der Moskauer Higher School of Economics HSE ist die russische Bevölkerungszahl im ersten Halbjahr 2022 zum sechsten Mal in Folge geschrumpft. Ganze 16% von Russlands Bevölkerung sind 65 Jahre oder älter, ab einem Wert von über 7% für diese Altersgruppe gilt eine Gesellschaft nach den gängigen Kriterien als überaltert. Von den Jungen kommen zu wenige nach, es gibt fast doppelt so viele 33-38-Jährige und 1,5-1,8-mal so viele 60-63-Jährige als 20-24-Jährige.

Die Mobilmachung von gut 300.000 Männern seit Ende September letzten Jahres hat dem russischen Arbeitsmarkt einen zusätzlichen Dämpfer versetzt. Dazu kommt bis April dieses Jahres noch einmal rund eine Viertelmillion, die zum turnusmäßigen Wehrdienst eingezogen wird (bei zwei regulären Einberufungsterminen pro Jahr, einem im Frühjahr und einem Herbst, mit je ca. 120.000 neuen Rekruten). Das Mobilmachungsdekret ist offiziell noch immer in Kraft. Zur Frage, ob es eines separaten Dekrets bedarf, mittels dessen die Mobilmachung für beendet erklärt wird, gibt es unterschiedliche Rechtsmeinungen. Die von Kremlsprecher Dmitri Peskow offiziell verkündete Linie lautet, dass es keinen zusätzlichen Ukas braucht, und die Rekrutierungsmaßnahmen einfach so eingestellt werden. Militärrechtsexperten sind sich da nicht so sicher, einige meinen sehr wohl, dass ein formaler Beschluss über das Ende der Maßnahme erforderlich sei. Regimekritiker halten das Verwirrspiel für Kalkül und rechnen mit einer neuen Mobilmachungswelle bzw. vertreten die Ansicht, dass die Rekrutierungen ohnehin nie aufgehört haben.

Die russische Politik versucht, den akuten Arbeitskräftemangel auch mit Maßnahmen zu entschärfen, die an die finstersten Zeiten der Sowjetherrschaft gemahnen. So werden in jüngster Zeit vermehrt Häftlinge zu Arbeiten auf großen Infrastrukturprojekten eingesetzt. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Modernisierung der Baikal-Amur-Magistrale, einer Nebenstrecke der berühmten Transsibirischen Eisenbahn. Der Ausbau des fernöstlichen Schienennetzes hat mit der Verhängung der europäisch-amerikanischen Wirtschaftssanktionen oberste Priorität für die russische Regierung bekommen. Nachdem die Warenströme in den Westen inzwischen versiegt sind, sollen sie so schnell wie möglich und mit noch größeren Volumina nach Fernost und in die Pazifikregion umgelenkt werden. Ohne die Arbeitskraft von Zehntausenden von Lagerhäftlingen wären derartige Projekte in Russland heute nicht zu stemmen. Erinnerungen an das berüchtigte Arbeitslagerregime der sowjetischen GULAGS drängen sich auf, werden von der russischen Regierung aber natürlich in Abrede gestellt.

Was auf betrieblicher Ebene getan werden muss, glaubt Olga Kopylowa vom Moskauer HR-Consultant Ventra zu wissen. Sie empfiehlt ein ganzes Bündel an Maßnahmen, um den grassierenden Arbeitskräftemangel in den Griff zu bekommen: von mehr Home Office, mehr Rekrutierungen aus dem Segment der Über-Fünfzig-Jährigen und mehr Einstellungen von Frauen in typischen Männerberufen, über Outsourcing und verstärkte Zusammenarbeit mit Freiberuflern, bis hin zu dem Versuch, sich als Unternehmen selbst darum zu bemühen, in den Kreis jener Betriebe aufgenommen zu werden, die ihre Mitarbeiter von der Mobilmachung befreien lassen können.

Die Befreiung von der Mobilmachung ist nämlich nicht an die jeweilige Person gebunden, sondern an den von ihr eingenommenen Arbeitsplatz. Und solche sind in Russland heute heiß begehrt. Die Entscheidung darüber, wer von der Mobilmachung verschont wird, fällt die jeweilige Personalabteilung in den Betrieben in Abstimmung mit den zuständigen Militärkommissariaten. Grob eingrenzen lässt sich die Gruppe der Berufsfelder, die einen Schutz vor der Einziehung zum Kriegsdienst bieten, wie folgt: Beschäftigte in Rüstungsbetrieben, IT-Spezialisten in entsprechend akkreditierten Unternehmen, Fachkräfte in Telekommunikationsunternehmen und systemrelevanten Medien, sowie Finanzfachleute und Bankmitarbeiter. Das gilt jedoch nicht pauschal für jeden Beschäftigten in diesen Branchen, sondern nur bei entsprechender fachlicher Qualifikation und Unabkömmlichkeit im Betrieb.

Sergei Guriev, Ökonom am Pariser Sciences Po, spricht im Interview mit der Nachrichtenplattform Populjarnaja Politika von rund einer Million hochqualifizierter Fachkräfte, die im Ausland eine neue Arbeit gefunden haben. Da dies oft auch kritische und unbequeme Bürger seien, trauere Wladimir Putin ihnen nicht wirklich nach, aber der Schaden für die russische Wirtschaft sei enorm. Denn das seien die Leute, die eine wissensbasierte Wirtschaft hätten aufbauen können. So werde es in Russland auf absehbare Zeit keine Ökonomie der Zukunft geben, sondern eine Wirtschaft wie in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Quellen:

https://www.kommersant.ru/doc/5581205

Persönliches Interview mit Johannes Wachs

https://www.superjob.ru/research/articles/113801/kak-izmenilsya-rynok-truda-posle-nachala-specoperacii/

https://thebell.io/skolko-rossiyan-v-2022-godu-uekhalo-iz-strany-i-ne-vernulos

https://novayagazeta-ru.cdn.ampproject.org/c/s/novayagazeta.ru/amp/articles/2022/12/27/strana-ubytiia

http://www.demoscope.ru/weekly/2022/0957/barom01.php

https://www.fontanka.ru/2022/11/01/71783552/

https://ventra.ru/news/olga-kopylova-podvela-itogi-goda/

https://ria.ru/20221005/bron-1821758477.html

https://iz.ru/1402429/ekaterina-militckaia/bronia-krepka-kak-poluchit-osvobozhdenie-ot-chastichnoi-mobilizatcii

https://www.interfax-russia.ru/kaleidoscope/bron-ot-mobilizacii

https://www.youtube.com/watch?v=vumTc-6jBNk

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