Todeskult und Überlebenskampf

Ernst Trummer, Langfassung eines Artikels, der am 1.3.2023 in der Wochenschrift „Die Furche“ veröffentlicht wurde  

Eine gefügige Kirche sowie ein identitätsstiftendes Retro-Konglomerat aus der Ideenwelt alter imperialer Größe sollen die Opferbereitschaft der Bevölkerung für Russlands Krieg gegen die Ukraine aufrechterhalten und die Reihen hinter Wladimir Putin schließen.

Februar 2012, Endspurt im Wahlkampf um das russische Präsidentenamt: Wladimir Putin ist fest entschlossen, sich dieses von seinem vier Jahre zuvor von ihm selbst installierten Platzhalter Dmitri Medwedew wieder zurückzuholen. Doch es läuft nicht nach Drehbuch. Die Wahlen zur Staatsduma wenige Monate zuvor waren von schweren Vorwürfen des massiven Wahlbetrugs überschattet, Moskau sieht die größten Protestkundgebungen seit Jahren. Sie bleiben bis heute die wichtigsten Mobilisierungserfolge der zersplitterten Opposition. Aber der Kreml überlässt ihr nicht die Straße. Am 23. Februar kommt es im Moskauer Luzhniki Sportstadion zu einer riesigen Pro-Putin-Kundgebung mit über 100.000 Anhängern.

„So lasst uns denn vor Moskau sterben / Wie unsre Brüder schon gestorben sind / Denn, dass wir sterben, haben wir versprochen / Und unsren Treueschwur, wir halten ihn / In Borodinos Schlacht.“ Wladimir Putin hat mit diesen Versen, hier frei übersetzt vom Autor dieser Zeilen, seine Gefolgschaft im Stadion auf den Kampf eingeschworen. Sie stammen aus der Feder von Michail Lermontov, einem der großen russischen Nationaldichter. Der setzte mit seinem monumentalen Poem „Borodino“ der heldenhaften Opferbereitschaft der russischen Soldaten ein literarisches Denkmal. In einer gewaltigen Abwehrschlacht gegen Napoleons Grande Armée im September 1812 vor dem Weiler Borodino rund 100 Kilometer westlich von Moskau sollten sie den Eroberungsfeldzug der Franzosen stoppen. Putin stilisierte seine Kandidatur als Ausdruck seiner Heimatliebe, die sein ganzes politisches Handeln bestimme. Für Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand für alle wolle er sorgen und das Land gegen alle äußeren und inneren Feinde verteidigen. Und er legte noch eins drauf, damit es auch wirklich jeder verstand: „Die Schlacht um Russland geht weiter. Und der Sieg wird unser sein!“

Weit und breit kein Napoleon in Sicht, aber nur wenige zeigten sich irritiert angesichts der Unangemessenheit dieses martialischen Tons, als ginge es um den Fortbestand des Vaterlands und nicht bloß um ein Unterfangen, das zum fixen Repertoire einer jeden Demokratie gehört: freie und faire Wahlen, bei denen sich jener mit den besten Zukunftsideen durchsetzen möge. Aber nicht einmal die schärfsten Putin-Kritiker konnten damals ahnen, dass dieser Mann fast auf den Tag genau zehn Jahre später den brutalsten Krieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs vom Zaun brechen würde.

Heldenrhetorik und die Beschwörung von Opferbereitschaft haben in Russland seither wieder Hochkonjunktur. Zwei entscheidende Dinge haben sich in der Wahrnehmung des Ukraine-Krieges seit dessen Beginn vor fast einem Jahr im Bewusstsein der schweigenden Mehrheit geändert: Erstens, die Ukraine hat bewiesen, dass sie durchaus in der Lage ist sich zu verteidigen und auch zu erfolgreichen und nachhaltigen Offensivoperationen fähig ist. Und zweitens – der Krieg hat die russischen Wohnzimmer erreicht, aber nicht mehr nur, wie in den ersten sieben Monaten, in Gestalt geschönter und völlig einseitiger Reportagen der staatlichen Propagandasender – die konnte, wer wollte, einfach wegschalten. Der Krieg kommt jetzt in Form von Einberufungsbefehlen. Gleichgültig sein geht jetzt nicht mehr, jeder einzelne wehrfähige Russe muss seit dem 21. September eine Wahl treffen: für oder gegen den Krieg. 

Die Chefeinpeitscher des Kreml haben alle Register gezogen. Gab es in den ersten Monaten noch vermeintlich rationale Rechtfertigungen für den Einmarsch in die Ukraine („Demilitarisierung!“ „Entnazifizierung!“), so bekommen die Anfeuerungen der Propagandisten zuletzt eine zunehmend metaphysische Dimension. „Das Leben ist überbewertet“, resümierte Wladimir Solowjow, der verhaltensauffälligste unter Putins TV-Propagandisten, kurz nachdem in der Silvesternacht mehrere Dutzend frisch rekrutierte Soldaten der russischen Armee nach ukrainischem Artilleriebeschuss ums Leben gekommen waren. „Wozu vor dem Angst haben, was ohnehin unvermeidlich ist? Umso mehr, wo wir doch ins Paradies kommen. Der Tod ist das Ende eines irdischen Weges und der Anfang eines anderen.“

Aber der vor der Kamera zu Tobsuchtsanfällen neigende Solowjow ist nicht unbedingt jedermanns Fall. Besser als Putins Marktschreier kann das der ehemalige KGB-Agent Wladimir Michailowitsch Gundjajew vermitteln – kraft der Autorität seines Amtes, das er unter dem Namen Kirill I. ausübt: „Das Fehlen der Angst vor dem Tod macht den Menschen unbesiegbar.“ Für das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche ist das aber nicht nur ein allgemeines Glaubenspostulat. Bei einer Predigt anlässlich der Entschlafung der Gottesgebärerin (Mariä Himmelfahrt) am 28. August letzten Jahres münzt der Patriarch diese Erkenntnis auf die ganz konkrete Erfahrungswelt auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben, wenn es darum geht, die Heimat zu verteidigen. „Wenn der Mensch sich in so einem Moment von seinen tiefen religiösen Gefühlen und seinem Glauben lenken lässt, dann geht er mutig in die Attacke, weil er begreift, dass sein Leben mit dem Ende seiner physischen Existenz nicht aufhört.“  

Bemerkenswert an Kirills Predigt war, dass der Marienfeiertag eigentlich keinen direkten Anknüpfungspunkt für das in Russland in letzter Zeit immer populärer werdende Konzept vom altruistischen Dienst am Vaterland liefert. Aber die orthodoxe Kirche lässt sich seit Jahren bereitwillig von der Politik instrumentalisieren und versteht sich als eine der tragenden Säulen einer neu herauszuarbeitenden Staatsideologie. Die verschiedenen Vordenker dieser Ideologie, von Lew Gumiljow über Iwan Iljin bis Alexander Dugin, eint vor allem eines: ihre klare Abgrenzung zur westlichen Ideengeschichte. Wladimir Putin streut in seinen öffentlichen Auftritten immer wieder Sympathiebekundungen für diese Denker ein – und die Medien nehmen den Ball bereitwillig auf und berichten darüber, „welche Philosophen der Präsident liest“. 

Gumiljows esoterisches Konzept von der „Passionarität“ der Nationen nannte Putin bei einem Auftritt im Valdai Club im Herbst 2021 „eine interessante Idee“. Weitergehende inhaltliche Einlassungen des Präsidenten sind nicht überliefert. Kurz zusammengefasst glaubte Gumiljow, die verschiedenen ethnischen Gruppen anhand ihrer Lebensenergie, die sich aus unterschiedlichen Faktoren der Biosphäre, u.a. kosmischer Strahlung, speist, klassifizieren zu können. Der Grad der „Passionarität“ entspricht dabei dem jeweiligen Aktivitätsspektrum, egal, ob Individuum oder Ethnie – von fast teilnahmslos lethargisch bis tatkräftig aktiv und risikobereit. Opferbereitschaft ist die höchste Entwicklungsstufe in dieser Hierarchie. Die Einsicht und Entschlossenheit, für eine höhere Idee, wenn es sein muss, auch sein Leben hinzugeben. Wie etwa vor vierhundert Jahren schon vorexerziert von Iwan Susanin, einem einfachen russischen Bauern, der sein Leben für den Begründer der Romanow-Dynastie geopfert hat, zum Volkshelden wurde und in Michail Glinkas Oper „Ein Leben für den Zaren“ schließlich Unsterblichkeit erlangte.

Klar, dass Autokraten wie Putin solche Ideen fördern. Wichtig ist, dass sie klare, simple Botschaften transportieren und den Nationalstolz befeuern, idealerweise angereichert mit Duftmarken aller wichtigen Meilensteine der gemeinsamen Geschichte. Einzige Voraussetzung – die Botschaften müssen entsprechend „patriotisch“ imprägniert sein.  So finden sich alle in dieser Retro-Ideologie wieder – Zarenverehrer, Slawophile, Revolutionäre und Dekabristen, Sowjetnostalgiker und Eurasisten und ansonsten schlicht jene, die allein wegen des Umstands, Bürger des größten Landes auf Erden zu sein, eine gewisse Sonderstellung zu spüren vermeinen. Der Kreml-Chef spielt seit Jahren auf dieser Klaviatur und kultiviert so einen seltsamen Ideologie-Eklektizismus. Auf dem Feld der Geschichtsschreibung glaubte er sogar, selbst dilettieren zu müssen, und ließ im Juli 2021 seine Ergüsse „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ vom Kreml publizieren, die Vertretern diplomatischer Kreise zur Lektüre anempfohlen wurden. Auch hier das gleiche Muster: Andreas Kappeler, emeritierter Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, erkennt in Putins Ausführungen eine wirre Gedankenwelt, „in der sich Sowjetpatriotismus, imperialer und russischer Ethnonationalismus sowie revisionistisches Denken vermischen.“

Patriarch Kirill ist überzeugt, dass sich Russland auf einer besonderen Mission befindet. Der Begriff der Sünde sei aus dem politischen Sprachgebrauch ausgeschieden, und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse allein dem Urteil des Individuums überlassen worden. Ein großer Teil der sogenannten zivilisierten Welt habe diese Idee aufgegriffen, während Russland, wie schon in den ruhmreichen alten Tagen, dieser schrecklichen Versuchung widerstanden habe. Es seien Zeiten angebrochen, in denen man „eine weltanschauliche Wahl“ treffen müsse, von der „nicht nur das persönliche Leben dessen, der diese Wahl trifft, abhängt, sondern die Existenz unseres Vaterlandes selbst“, mahnte der Moskauer Patriarch in einem Auftritt letzten September. Wo sich Russland erfolgreich als Gegenpol des globalen Bösen stilisiert, wird der Tod fürs Vaterland per se zu einer Manifestation modernen Märtyrertums.

Bildungsdefizite, prekäre soziale und wirtschaftliche Verhältnisse sowie religiöse Instrumentalisierung bilden seit jeher und in allen Gesellschaften einen guten Nährboden für Propaganda. Was dieses Phänomen in Russland so speziell macht, ist die Extraportion Fatalismus, die hier noch dazukommt, gerade bei denen, die das Leben abgehängt hat. Wer es nicht geschafft hat, materiell erfolgreich zu sein, kann den Wert seiner armseligen Existenz schlagartig in lichte Höhen katapultieren, wenn er sie in den Dienst des Vaterlands stellt und in letzter Konsequenz bereit ist, sie dafür zu opfern. 

Aber der Mensch lebt nicht von Ehre und hehren Heilsversprechen allein. Die Wirtschaftsgeographin Natalja Zubarevich, eine profunde Kennerin der Lebensverhältnisse in der tiefen russischen Provinz, bringt die Werteverschiebung fernab von den Metropolen auf den Punkt: „Die Einstellung gegenüber dem Tod ist hier eine etwas andere. Gott gibt und Gott nimmt. Wenn die Leute arm oder sogar sehr arm sind, dann haben sie einfach eine etwas andere Auffassung vom Leben.” Es ist natürlich kein Zufall, dass diejenigen, die in den Reihen der russischen Armee in der Ukraine kämpfen, überwiegend aus diesen strukturschwachen Regionen kommen – das gilt sowohl für jene, die als Mitglieder ganzer Truppenverbände in die Ukraine abgestellt wurden, als auch für jene, die sich nachträglich freiwillig zur Armee meldeten. Wir erinnern uns mit Schaudern an die Geschichte vom weißen Lada, den die Eltern eines in der Ukraine gefallenen Soldaten von der staatlichen Kompensationszahlung kauften, im Volksmund „Begräbnisgeld“ genannt. Genau so einen weißen Lada habe sich sein Sohn immer gewünscht, erzählt der Vater des Gefallenen dem Fernsehteam. Jetzt fahren er und seine Frau damit zum Friedhof, um das Grab des Sohnes zu besuchen. Die Reportage wurde in allen Regionen Russlands gezeigt, außer in Moskau und Sankt Petersburg: falsche Zielgruppe!

In einem Land, in dem der Präsident bei einer öffentlichen Debatte im Valdai Club 2018 über die Gefahren einer atomaren Auseinandersetzung für die Worte „wir kommen als Märtyrer ins Paradies, während sie einfach nur krepieren werden“, Gelächter und Applaus erntet, darf man eben nicht zimperlich sein. 

Das Gemetzel von Borodino hat übrigens nicht den entscheidenden Sieg gegen Napoleon gebracht. Den hat Zar Alexander I. eher der tatkräftigen Unterstützung von „General Winter“ zu verdanken, der auch im jetzigen Ukraine-Krieg wieder eine wichtige Rolle hätte spielen sollen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hier der Link zur gekürzten Fassung in der Wochenschrift „Die Furche“:

https://www.furche.at/religion/kyrill-and-co-im-ukrainekrieg-todeskult-und-ueberlebenskampf-10458700

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