Russlands Wirtschaft heute und morgen: “Obervolta mit Raketen” 2.0?

Ernst Trummer, 2.1.2023   Eine gekürzte Fassung dieses Artikels wurde am 17.1.2023 in der Rubrik WiWo+ des Magazins WirtschaftsWoche veröffentlicht
https://www.wiwo.de/my/politik/europa/russland-so-steht-es-wirklich-um-putins-wirtschaft-/28915156.html

Russische Behörden, Statistikämter und Agenturen ziehen Bilanz über das Jahr 2022. Wir geben im Folgenden eine Übersicht zu den wichtigsten wirtschaftlichen Kennzahlen, soweit sie für das abgelaufene Jahr vorliegen.

Die staatliche Statistikbehörde Rosstat gibt für das BIP in den ersten drei Quartalen 2022 (Zahlen für das Gesamtjahr sind noch nicht veröffentlicht) einen Marktpreis-Wert von 106.121,6 Mrd Rubel an, was einem Rückgang von lediglich 1,6% verglichen mit dem Zeitraum Jänner-September 2021 entspricht (bei einem BIP-Deflator von 116,9). Zentralbankpräsidentin Elvira Nabiullina erwartet übers ganze Jahr gerechnet einen BIP-Rückgang von 3-3,5% (veranschlagt waren 3-4% Wachstum). “Gerettet” hat diese Bilanz vor allem das starke erste Quartal 2022, in dem die russische Wirtschaftsleistung noch ein Plus von immerhin 3,5% schaffte. Danach ging es langsam aber beständig abwärts, im 3. Quartal schrumpfte das BIP auf 96,3% des Vorjahreswerts. 

Die meisten Experten sind sich einig, dass sich dieser schleichende Abwärtstrend noch sehr lange fortsetzen wird. Nach Einschätzung des russisch-amerikanischen Ökonomen Oleg Itskhoki, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of California, Los Angeles, befindet sich die russische Wirtschaft in einer Phase der “trägen Stagnation, die noch viele Monate andauern kann”. Was die russische Wirtschaft insgesamt bisher über Wasser gehalten hat, ist nach Ansicht Itskhokis der enorme Handelsbilanzüberschuss, den Moskau im vergangenen Frühjahr erwirtschaften konnte. Dieser sei eine direkte Folge der inkonsequenten Boykottpolitik des Westens: Gezielten Sanktionen gegen Russlands Finanz- und Importsektor standen lange Zeit keine analogen Einschränkungen beim Export von devisenbringenden Rohstoffen gegenüber. 

Übers ganze Jahr betrachtet hat aber auch der russische Außenhandel schwere Einbußen zu beklagen. Laut Zahlen der Russischen Zentralbank ist das Exportvolumen insgesamt um 15-16% eingebrochen, wobei im Jahr 2023 mit einem weiteren Rückgang von bis zu 11,5% zu rechnen sein werde, wenn dann das Sanktionsregime der EU auch auf die Exporte voll durchschlägt. 2024 soll der Abwärtstrend bei nur noch 1-3% liegen, und 2025 erwartet die Zentralbank erstmals wieder ein leichtes Wachstum im Bereich von bis zu 2% – bemerkenswerterweise auf Basis der “Wiederherstellung des Öl- und Gasexports und Dienstleistungsexports”. 

Was unter den gegebenen Voraussetzungen besonders gelitten hat, ist der Konsumgütersektor der russischen Volkswirtschaft. Die Entwicklung im Einzelhandel zeigt russlandweit ein Minus von 6,2% für die ersten elf Monate des Jahres 2022 gegenüber der entsprechenden Vergleichsperiode des Vorjahres, wobei es relativ starke regionale Schwankungen gibt. So sind die Rückgänge in den Großstädten deutlicher ausgefallen als in der Provinz. In St. Petersburg waren es -11,6%, in Moskau -8,7%, in der Oblast Moskau, zu der z.B. die großen Einkaufszentren jenseits der Moskauer Außenring-Autobahn gehören, waren es sogar -14,5%. 

Aleksandr Sotin, Ökonom an der Russischen Außenhandelsakademie beim Ministerium für Wirtschaftliche Entwicklung der Russischen Föderation, erklärt dies mit der Abwanderung großer internationaler Handelshäuser, die gerade in den städtischen Gegenden besonders stark vertreten waren. Die Betreiber der Supermarktkette Azbuka Vkusa, deren Geschäfte im Premiumsegment angesiedelt sind, führen die erlittenen Umsatzrückgänge nicht zuletzt auch auf “den Einfluß der massenhaften Auswanderung des Zielpublikums” zurück. 

Das ist insofern schlüssig, als die Kundschaft von Azbuka Vkusa zu einem großen Teil jener sozioökonomischen Schicht entstammt, die ausreichend finanzstark, beschäftigungstechnisch flexibel und mobil genug war, um das Land nach der Verkündung der Mobilmachung Ende September kurzerhand verlassen zu können. In manchen Bereichen geschah dies übrigens sogar unter aktiver Mithilfe der Arbeitgeberseite. So haben beispielsweise Firmen, die Videogames entwickeln, oft ganze Flugzeuge gechartert, um ihre Spieledesigner, die im Gegensatz zu IT-Fachkräften nicht von der Zwangsrekrutierung befreit sind, samt deren Angehörigen aus Russland ausfliegen zu lassen. Viele dieser Firmen hatten bereits im Frühjahr, als man begriffen hatte, dass die EU diesmal geschlossen hinter ihren Wirtschaftssanktionen stehen würde, Dependancen im benachbarten Ausland gegründet. 

Unter den insgesamt verschlechterten Rahmenbedingungen infolge von gestörten Lieferketten hat natürlich auch die russische Industrie gelitten. RIA Rating erwartet einen Einbruch von 10% im Maschinenbausektor über das ganze Jahr 2022 gerechnet. Andere Bereiche der verarbeitenden Industrie werden ähnlich schlecht abschneiden: Holzverarbeitung – minus 9,6%, Textilverarbeitung – minus 9,9% und Tabakindustrie – minus 11,4%.

Das schlechteste Ergebnis im gesamten Maschinenbausektor hat die Autoindustrie eingefahren – hier erreichte der Rückgang nach dem 3. Quartal katastrophale minus 49%. Und das, nachdem schon im Jahr 2021 die Produktionszahlen aufgrund des allgemeinen Chipmangels rückläufig waren. Ab dem 2. Quartal 2022 ist die Produktion in vielen Fabriken praktisch zum Erliegen gekommen – eine direkte Folge davon, dass viele westliche Produzenten sich vollständig aus dem Markt zurückgezogen haben. 

Es gab zwar auch Signale, dass zumindest einige dieser aufgelassenen Produktionskapazitäten von chinesischen Herstellern übernommen werden könnten. Immerhin verzeichneten chinesische Marken einen rasanten Anstieg ihres Marktanteils im russischen PKW-Sektor von unter 10% im vergangenen Jänner auf über 30% im November. Ob es hier aber von chinesischer Seite zu einem nachhaltigen Engagement kommt, wird wesentlich davon abhängen, wie sich der Markt nachfrageseitig entwickelt. Die russische Regierung will deshalb mit besonders günstigen Autokrediten die nötigen Impulse setzen, die laut Azat Timerchanow, Sprecher der Analyseagentur Avtostat, großzügige Rabatte von bis zu 25% auf den Kaufpreis bringen sollen. 

In praktisch allen Segmenten der russischen Volkswirtschaft war über das Jahr betrachtet im Wesentlichen dieselbe Dynamik zu erkennen: Einem leichten Plus im ersten Quartal folgte ein stetig stärker werdender Abwärtstrend in den Monaten danach. Der einzige Sektor, auf den dieser Befund nicht zutrifft, ist der militärisch-industrielle Komplex. Hier wurde im abgelaufenen Jahr rund ein Drittel mehr ausgegeben als ursprünglich veranschlagt worden war. Insgesamt beliefen sich die Ausgaben aus dem Titel “nationale Verteidigung” auf knapp 4,68 Billionen Rubel, wie das Wirtschaftsblatt Vedomosti unter Berufung auf Zahlen aus dem Finanzministerium berichtet. 

Dieser Anstieg hat zwar auch einen positiven Einfluss auf das BIP, das damit einen Zuwachs von rund 1% erfährt. Aber natürlich ist das keine ökonomisch nachhaltige Entwicklung, im Gegenteil – die Zuwächse in diesem Sektor gehen zulasten der zukünftigen Entwicklung aller übrigen Sparten der Volkswirtschaft. Das zeigt sich auch auf dem Arbeitsmarkt: Während die Beschäftigungszahlen in der Rüstungsindustrie deutlich zunehmen, nicht zuletzt dank des Umstands, dass die Belegschaft in diesen Betrieben nicht zum Kriegsdienst eingezogen wird, herrscht in vielen anderen Sektoren ein spürbarer Mangel an Arbeitskräften. Die Arbeitslosenzahlen sind mittlerweile mit 3,7% per Ende November auf einem historischen Tiefstand, was auf den ersten Blick ein durchaus paradoxer Befund für Krisenzeiten ist. Dafür ist aber neben den bereits erwähnten Zuwächsen im Rüstungssektor der massive Abgang von Arbeitskräften durch Fluchtbewegungen ins Ausland (selbst nach äußerst vorsichtigen Schätzungen mindestens 500.000 Personen mit meist überdurchschnittlicher Qualifikation) sowie durch die Mobilmachung selbst (derzeit mindestens 300.000 Personen) verantwortlich.

Langfristig wird das noch weitreichende Folgen durch die ungünstige demografische Struktur der russischen Gesellschaft haben, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen (Stichworte: Überalterung der Gesellschaft, fehlende Arbeitsmigration). Und kurz- und mittelfristig hat das für die Arbeitgeber den Effekt, dass sie höhere Löhne für weniger gut qualifizierte Arbeitskräfte zahlen müssen, was in der Folge zu Produktivitätseinbußen führt, die wiederum durch Preiserhöhungen wettgemacht werden müssen. Insgesamt nicht die besten Voraussetzungen dafür, um den allgemeinen Preisanstieg in den Griff zu bekommen.  

Der Verbraucherpreisindex hat in den ersten elf Monaten des Jahres 2022 gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2021 um insgesamt 13,9% zugelegt. Auf das ganze Jahr bezogen erwartet die Zentralbank einen allgemeinen Anstieg der Konsumentenpreise von 12-13%, der sich für 2023 dann bei 5-7% einpendeln und schließlich 2024 den Zielwert von 4% erreichen soll. 

Insgesamt lässt sich resümieren, dass sich die russische Wirtschaft 2022 wohl resilienter erwiesen hat, als von manchen erwartet oder erhofft. Das ist allerdings weniger ein Erfolg der Politik als vielmehr dem Umstand geschuldet, dass die Struktur der russischen Volkswirtschaft immer noch recht primitiv ist. Wäre sie ähnlich diversifiziert wie in den entwickelten Ländern heute üblich, hätten die Sanktionen im Exportsektor schon viel früher gegriffen. So aber ist der Prozeß der Emanzipation Europas von den russischen Rohstofflieferungen bis heute noch nicht vollständig abgeschlossen.

Dass die russische Wirtschaft unter dem Druck der Sanktionen des Westens zusammenbrechen würde, war daher vernünftigerweise nicht zu erwarten. Hier ist vor allem die Zeit der entscheidende Faktor: Ein Absturz in die dunklen Zeiten der Stagnation wie in der späten Sowjetunion ist zwar nicht absehbar, aber die wirklich harten sozioökonomischen Prüfungen stehen Russland erst bevor.

Quellen:

https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/osn-11-2022.pdf

https://cbr.ru/Collection/Collection/File/43452/2022_04_ddcp.pdf

https://www.svoboda.org/a/oleg-itshoki-v-rossii-vvoditsya-nalog-na-chelovecheskie-zhizni-/32106942.html

https://t.me/NewGosplan/441

https://www.kommersant.ru/doc/5608346

https://www.kommersant.ru/doc/5581205

https://riarating.ru/macroeconomics/20221213/630234422.html

https://www.autostat.ru/editorial_column/53480/

https://www.vedomosti.ru/economics/articles/2022/09/23/942188-rashodi-na-natsionalnuyu-oboronu

https://thebell.io/skolko-rossiyan-v-2022-godu-uekhalo-iz-strany-i-ne-vernulos

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