Das andere Russland - Boris Bondarjew

Quelle: https://truerussia.org/journal/bondarev/ – gekürzte Übersetzung aus dem Russischen, Ernst Trummer, 8.11.2022  

Bevor Sie den folgenden Text lesen, möchte ich Sie gerne auf eine Spendenaktion der Plattform truerussia.org aufmerksam machen, bei der Sie bedürftige Menschen in der Ukraine unterstützen können – sehen Sie dazu den folgenden Link:

https://truerussia.org/en/projects/podderzhite-proekty-nastoyashchey-rossii/

Boris Bondarjew war 20 Jahre lang Beamter des russischen Außenministeriums und diente zuletzt als Berater in der russischen UN-Mission in Genf. Der Karrierediplomat trat aus Protest gegen Russlands Überfall auf die Ukraine am 23. Mai 2022 freiwillig zurück und löste damit großes Aufsehen in den internationalen Medien aus. Die Plattform truerussia.org führte mit Boris Bondarjew am 4.8.2022 ein Video-Interview, dessen Transkript wir hier in gekürzter Fassung in deutscher Übersetzung wiedergeben.

Elena Servettaz (Frage): Mein heutiger Gast ist Boris Bondarjew, ein ehemaliger Diplomat, der von seinem Amt als Berater in der Genfer UN-Vertretung der Russischen Föderation zurückgetreten ist. Meine erste Frage – warum haben Sie sich zu diesem Schritt entschlossen?

Boris Bondarjew (Antwort): Kurz gesagt, ich habe das getan, weil ich nicht mehr im staatlichen Dienst eines Staates arbeiten wollte, der einen aggressiven Krieg gegen seinen nächsten Nachbarn und sein uns am nächsten stehendes Volk führt.

Frage: Der Gedanke an Rücktritt kam Ihnen gleich am 24. Februar?

Antwort: Ja, genau. Wenn ich bis dahin noch dachte, dass ich noch eine Zeitlang weitermachen müsse, um dann in aller Ruhe zu einer neuen Stelle zu wechseln, so habe ich am 24. Februar verstanden, dass ein Point of No Return sowohl für Russland als auch für das Regime überschritten wurde, und dass ich nicht länger bleiben kann. Deshalb habe ich meinen Rücktritt eingereicht, um mein Gewissen zu retten.

Frage: Dazu kommt, dass Sie nicht leise zurückgetreten sind, sondern im Gegenteil – Ihr Rücktritt hat auf der ganzen Welt Aufsehen erregt. Alle großen Medien haben von Ihrer scharfen Verurteilung des Krieges in der Ukraine berichtet. Hatten Sie sich zuvor mit einem Ihrer Kollegen beratschlagt? Und warum haben Sie sich zu einem lauten Abgang entschlossen?

Antwort: Nein, ich habe mich natürlich mit niemandem beratschlagt. Erstens wollte ich niemanden in Verlegenheit bringen, wollte niemandem irgendwelche unangenehmen Fragen stellen. Zweitens wusste ich, dass ich in meinem näheren Umfeld kein Verständnis und keine Unterstützung finden würde. Drittens, warum ein lauter Abgang? – Weil ich wollte, dass die Menschen sehen, dass es auch im russischen Außenministerium normale Leute gibt, die die Lage so sehen wie sie ist, die der Führung nicht in allem zustimmen, die nicht sämtliche Ideen und Handlungen, auch die menschenverachtenden, unterstützen. 

Ich habe natürlich nicht geglaubt, dass andere Diplomaten mir folgen würden, ich hatte hierzu keine besonderen Gedanken und Hoffnungen. Ich kenne viele Kollegen, die lieber einfach mit dem Strom schwimmen, solange es sie nicht persönlich betrifft. Ich wollte einfach nur einen persönlichen Beitrag im Kampf des Guten gegen das Böse leisten.

Frage: Das heißt, Sie waren überzeugt, dass keiner Ihrer Kollegen Ihnen folgen würde, kein Mitarbeiter des Außenministeriums – das ist ja doch eine große Organisation mit Hunderten von Mitarbeitern in den verschiedensten Ländern der Welt.

Antwort: Ja, weil die Menschen sind in ihrer Mehrheit – nicht nur im Außenministerium, sondern überhaupt – Konformisten, sie schwimmen mit dem Strom und befolgen die Regeln, damit es keine Probleme gibt. Und wenn du dann nicht nur abrupt die Arbeit verlässt, sondern beim Abschied auch noch Erklärungen abgibst, so heißt das, dass du Probleme bekommen wirst, vor allem in Russland.

Frage: Wie funktioniert das praktisch – ein Mensch arbeitet im Außenministerium, das heißt, er hat eine Ausbildung bekommen, muss bestimmte Dinge verstehen, zu kritischem Denken fähig sein. Aber es gibt doch kein kritisches Denken im Außenministerium, oder? Hat sich das erst in den letzten Jahren so entwickelt? 

Antwort: Wenn du am MGIMO [Moskauer Institut für Internationale Beziehungen] studierst, dann bereitest du dich auf eine Karriere im Außenministerium vor, und man bringt dir bei, dass es so etwas wie staatliche Interessen gibt und dass man diese verteidigen muss. Die staatlichen Interessen Russlands hängen nicht davon ab, wer sich gerade an der Macht befindet. Die Leute bekommen auf diese Weise psychologische Unterstützung, sie können zu sich sagen: “Ich verteidige die Interessen des Staates,ich heiße nicht gut, was z.B. Putin tut, aber es gibt ein objektives Interesse.”

Was anderes ist es, wenn sie nicht versuchen, in ihren Überlegungen weiterzugehen, um zu verstehen, von wem diese Interessen formuliert wurden – von Putin oder jemandem anderen. Deshalb ist es mit der kritischen Meinung nicht immer einfach. Das Außenministerium ist natürlich nicht die Armee, aber auch da existiert eine bestimmte Hierarchie und unabhängig denkende Menschen sind da nicht willkommen, besonders jetzt.

Frage: Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen? Sie sagten, Sie hatten schon vor dem Krieg gewisse Zweifel.

Antwort: Natürlich, das hat sich alles aufgestaut. Als ich zum Beispiel schon in Genf arbeitete – da wurden ständig verschiedene Dokumente verfasst und nach Moskau geschickt, Telegramme und dergleichen, wie das eben so ist, über bestimmte Ereignisse oder Veranstaltungen. Wenn du so ein Dokument verfasst, dann ist es wichtig, dass du alles in einem bestimmten Ton formulierst, bestimmte Nuancen wiedergibst, damit bei demjenigen, der das dann liest, ein bestimmtes Bild entsteht.

Ich habe ja immer geglaubt, wenn du über etwas berichtest, dann müssen die Informationen möglichst ausgeglichen und objektiv sein: Ja, du gibst deine Einschätzung und Prognose ab, aber du musst von einer Analyse ausgehen, musst objektiv und unvoreingenommen bleiben. Wenn du berichtest, dass unsere russophoben Feinde sich wieder mit einer antirussischen Aktion hervorgetan haben, dann ist das keine Analyse, sondern Propaganda.

Frage: So etwas steht tatsächlich in den Berichten ans Außenamt?

Antwort: Ja. Ich habe in meiner Erklärung [zum Rücktritt] gesagt, dass in den Gemäuern des Außenministeriums die Propaganda die Arbeit ersetzt hat. In den letzten Jahren hat sich das vermutlich noch verschärft. Nach der Vergiftung der Skripals [des abtrünnigen russischen Ex-Geheimagenten Sergej Skripal und seiner Tochter Julija am 4.3.2018 im englischen Salisbury], als das Thema Chemiewaffen in der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen in Den Haag auf die Tagesordnung gelangte, trafen von dort Berichte ein, die an die Aufmacher in den Zeitungen der 1930-er Jahre erinnerten: “zermalmt das Niederträchtige” und ähnliches stand da zu lesen. Anfangs ist das noch witzig, aber dann begreifst du, dass das gelenkt ist, die anderen Botschaften imitieren das, weil solche Meldungen in Moskau gut ankommen. Man muss also auch so schreiben, und am Ende beginnt dann ein propagandistischer Schreibmarathon, hinter dem man kaum noch die Wahrheit erkennt.

So wird jede außenpolitische Niederlage als großer Sieg dargestellt, und man muss schon sehr gut mit dem Thema vertraut sein, um zu verstehen, was eigentlich gemeint ist. Weil von den Botschaften eine ungeheure Anzahl von Dokumenten nach Moskau geschickt wird, beschäftigt sich dort niemand mehr mit den Details und so festigt sich offensichtlich bei denen da oben ein völlig pervertiertes Bild von der Welt.

Frage: Diese Praxis, eine Niederlage als Sieg auszugeben – wozu wird das gemacht? Damit es die Menschen vor Ort glauben? Wenn Sie, die Sie Diplomaten sind, solche Themen miteinander diskutieren, dann verstehen Sie doch, dass es keine verseuchten Stechmücken aus der Ukraine gab [Anspielung auf das russische Propagandagerücht, die Ukrainer bedienten sich biologisch manipulierter Insekten oder Vögel zur Kriegsführung gegen Russland], oder Nazis, Sie müssen das doch verstehen?

Antwort: Sie urteilen jetzt wie ein normaler Mensch, der realistisch denkt, aber viele glauben so etwas tatsächlich. Vielleicht sind das nur Opportunisten und tun nur so, als würden sie so denken und die von oben vorgegebene Politik unterstützen. Das kann ich nicht genau sagen. Aber es gibt auch Menschen, die aufrichtig von diesen Dingen überzeugt sind. Und dann gibt es noch jene, die sagen: “Ist uns egal, was da passiert, so wie sie es uns sagen, so machen wir es.” Als dieses Thema der “biologischen Waffen”, der “Labors in der Ukraine” aufkam, da haben sie uns Materialien vorgegeben, und da waren so Dokumente darunter wie zum Beispiel eine Präsentation irgendeiner amerikanischen Universität, die mit irgendeinem ukrainischen epidemiologischen Institut zusammenarbeitet. Einfach eine Power Point-Präsentation, in der diese Zusammenarbeit dargestellt wird. Und bei uns wird das dann als Beweis gesehen, dass die Amerikaner biologische Waffen in der Ukraine entwickeln. Das ist vollkommener Schwachsinn, eine solche Schlussfolgerung geht keinesfalls aus diesen Dokumenten hervor.

Frage: Anhand der Dokumente ist also klar, dass das fabriziertes Fake-Material ist, aber sie berufen sich auf dieses Material.

Antwort: Das ist nicht einmal ein Fake. Eine Universität, sagen wir Princeton, betreibt ein Projekt zur Erforschung der Flugrouten von Zugvögeln in der Ukraine. Für irgendeine wissenschaftliche Veranstaltung wurde eine Präsentation auf Slides gemacht – Karten, Pfeile. Und es wird darüber informiert, wer das Projekt finanziert hat, wieviel Geld ausgegeben wurde usw. Daraus leiten unsere wackeren Leute im Verteidigungs- und Außenministerium dann ab, dass “die Amerikaner die Ukrainer für die Entwicklung von biologischen Waffen bezahlen”. Und dann sollen wir der gesamten diplomatischen Community in Genf diese Dokumente präsentieren, damit sie sich selbst davon überzeugen kann.

Und wenn du deinen Vorgesetzten dann sagst, dass das nicht seriös ist, Kindergartenkram, dann antworten die: “Wir wissen es nicht, das haben sie aus Moskau hergeschickt, mach schon.” Dann unterhalten Sie sich, sagen wir, mit einem Diplomaten darüber , und der sagt dann natürlich: “Naja, ich verstehe, aber…” Und Sie verstehen dann natürlich, was genau Ihr Gesprächspartner verstanden hat. Aber dann müssen Sie rapportieren, dass Sie Ihre Arbeit gemacht haben, dass Sie Ihren Gesprächspartner überzeugt haben. Aber Sie haben ihn gar nicht überzeugt. Und dann fangen Sie an zu erfinden, Sie denken sich Propaganda aus. Sie schreiben, dass “die Entwicklungsländer unsere Argumente ernst genommen haben”, während “die Länder des Westens nichts zu entgegnen wussten“ und dergleichen. Aber die waren bei diesen Gesprächen vielleicht gar nicht dabei, sodass sie natürlich nichts entgegneten, nichts antworteten. Aber das schreiben Sie nicht in Ihrem Rapport, Sie schreiben, dass sie “nicht wussten, was sie antworten könnten”.

Frage: Aber im Außenministerium selbst, weiß man da von solchen Schlappen? Glaubt man diese Geschichten von den Vögeln mit biologischen Waffen oder gibt es Leute, die das durchschauen?

Antwort: Wissen Sie, es gibt diese alte Redensart: “Alle wissen alles”. Und wenn man sich mit hochrangigen Personen unterhält, dann sieht man – die verstehen schon, dass es bei uns Korruption, Inkompetenz und Unwahrheit gibt. Aber andererseits sind alle diese Leute mit genau diesen Dingen beschäftigt. Deshalb ist das eine sehr schwierige Frage, inwieweit man die Dinge bei uns richtig oder falsch versteht. Wenn man mit den Leuten spricht, so scheint es, als würden alle verstehen. Aber wenn man dann schaut, was die dann schreiben, dann erschrickt man – der reinste Schwachsinn.

Frage: Man fragt sich – wenn [Außenminister Sergej] Lawrow sich bei ausgeschaltetem Mikrofon zum Beispiel mit dem Außenminister Frankreichs unterhält, ist er dann auch so [wie man ihn von den offiziellen Auftritten her kennt]? Oder verhält er sich nur vor Publikum so, aber wenn man unter sich ist, off the record, im Umgang mit ausländischen Kollegen, versteht er dann, was Sache ist?

Antwort: Schwierige Frage, weil in letzter Zeit, soweit ich weiß, off the record niemand mehr mit jemandem spricht, vor allem nicht mit westlichen Kollegen. Andererseits, als Ribbentrop unseren Botschafter einbestellte, um ihm die Note über die Kriegserklärung auszuhändigen, sagte er später auf dem Gang zu ihm: “Ich bin überhaupt gegen den Krieg, aber auf mich hört man nicht, was kann ich machen? Aber richten Sie aus, dass ich dagegen war.”

[Es folgt ein etwas längerer Exkurs über vergangene Fehleinschätzungen des Außenministeriums in Libyen, oder in der Mongolei, über das Fehlen einer strategischen Ausrichtung der russischen Außenpolitik. Stattdessen sei sie hauptsächlich nach den kurzfristigen Interessenlagen einzelner einflussreicher Personen aus dem Umfeld Putins definiert worden.]

Frage: Haben Sie heute ein Verständnis davon, warum Putin den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat? Um wessen Interessen geht es da?

Antwort: Erstens einmal um sein persönliches Interesse, sich an der Macht zu halten, da die Lage im Land schlecht ist, die Wirtschaft schrumpft, und das geht schon seit der [Eroberung der] Krim so. Es ist eine neue Generation herangewachsen, die, auch wenn sie unter Putin geboren wurde, ihn nicht als großen Führer wahrnimmt, der das Land vor dem Wahnsinn der 1990-er Jahre gerettet hat. Sie sind aktive Internet-Nutzer, haben Facebook, Instagram usw., sie wollen reisen, orientieren sich am Westen etc. Nicht alle, aber ein Großteil von ihnen. Auf der anderen Seite haben Sie diejenigen, die so wie Putin in einem ewigen Jahr 1945 leben wollen, alte Leute, 70-Jährige, so wie er selbst. Es gibt sie auch in einer jüngeren Ausgabe, als 50-Jährige, die süchtig nach Propaganda sind. Also auf wen soll Putin setzen? Auf die, für die er uninteressant ist und die ihn nicht brauchen? Wie soll er sie davon überzeugen, dass sie ihn noch weitere 20 Jahre wählen sollen? Damit, dass er die Wirtschaft noch weiter ruiniert?

Und da kommt der Krieg ins Spiel. Ein Sieg und Putin kann den großen Staatenlenker geben, der die russischen Lande vereinigt hat. Ja, unsere Wirtschaft ist mies, aber das ist, weil wir einen Krieg gegen die ganze Welt führen.

Frage: Der Krieg war nötig, damit das Elektorat 60-plus ihn unterstützt?

Antwort: Für alle war er nötig. Als die Krim annektiert wurde, waren viele Leute voller Optimismus. Davor hatten alle darüber gesprochen, wie Chruschtschow die Krim rechtswidrig an die Ukrainer abtrat. Und als sich die Gelegenheit bot, sie sich schnell zu schnappen, hat sie Putin genutzt, weshalb er sich für einige Jahre große politische Unterstützung sichern konnte. Später fing sie wieder an zu bröckeln, weil man sich nicht dauerhaft in einem Zustand der Mobilmachung befinden kann. Er ahnte, dass er wieder etwas unternehmen musste. 

Er hat auch noch eine zweite, noch wichtigere Aufgabe, wie ich meine. Es geht darum, mit der Ukraine fertig zu werden, er sieht sie als persönliche Herausforderung, weil die Ukrainer sich ihm nicht unterordnen wollen. Sie wollen keinen Präsidenten Janukowitsch, den er ihnen einige Male aufzudrängen versucht hatte. Überhaupt hält er die Ukraine, das hat er vor dem Krieg dem ganzen Land erklärt, für einen künstlichen Staat, es gebe gar kein ukrainisches Volk, keine ukrainische Sprache. Und in Kiew säßen “Drogensüchtige”, “Bandera-Leute” usw.  

Und dann gibt es da noch einen dritten Grund für Putin – mit der Eroberung der Ukraine den Amerikanern eine Lektion zu erteilen und ihnen zu sagen: “Ich bin hier der Häuptling, der postsowjetische Raum ist mein Hinterhof, ihr haltet euch da raus!”

Frage: Das heißt, in seinem Kopf ist der kalte Krieg noch nicht vorüber?

Antwort: Er kann gar nicht vorüber sein, Putin stammt doch aus dem KGB. Das sind Leute, die darauf aus sind, überall Feinde zu suchen. Ich habe Kollegen in Genf, die so denken: Was auch immer die Amerikaner tun, es geht ihnen nur darum, uns zu schaden, wir müssen nur verstehen, wie.

Frage: Seltsam, dass die Diplomaten daran glauben. Ich stelle mir immer Menschen vor, die in Russland leben, egal wo. Diesen Menschen haben sie das Internet abgedreht und sie können keine normalen, unabhängigen Zeitungen mehr lesen. [Der Radiosender] “Echo Moskau” ist auch verboten… Aber wenn man Diplomat ist und Zugang zu allen Massenmedien der Welt hat, von Amerika bis China, dann kann man sich doch eine eigene Meinung bilden, sich davon überzeugen, dass die Welt nicht zweipolig ist, dass es verscheidene Farben gibt, und dass deine eigene Farbe nicht die allerwichtigste ist.

Antwort: Ja, aber wenn man das so macht, dann tauchen Zweifel auf im Kopf, und Zweifel mag die Obrigkeit nicht.

Frage: Aber die russischen Diplomaten haben doch die Menschen gesehen, die in den Wohnhäusern in Winnyzja, in Odessa umgekommen sind. Wie können sie denn dieser kranken Frau, [Margarita] Simonjan [Chefredakteurin von Russia Today], glauben, die der ganzen Welt weiszumachen versucht, die Ukrainer hätten dort selbst alles zerbombt?

Antwort: Russische Diplomaten diskutieren bei einer Tasse Tee oder Kaffee, wie lange es nach dem Zweiten Weltkrieg gedauert hat, bis alle Bandera-Leute in der Ukraine gefasst werden konnten, und wie lange es diesmal dauern wird. Oder als Mariupol belagert wurde, da ging die Rede davon, dass man dort vielleicht eine chemische Bombe abwerfen sollte, um alle in ihren unterirdischen Verstecken auszuräuchern. Das sind Leute, die ernsthaft solche Diskussionen führen. 

Diese Leute leben in der Schweiz und genießen alle Annehmlichkeiten, die dort geschaffen wurden,aber sie glauben, es läuft alles wie bei uns. Das ist ihre Projektion im Kopf – alles ist gleich wie bei uns, die Korruption, ein endloses System gegenseitiger Abhängigkeiten.

Frage: Aber gleichzeitig ziehen sie es vor, im “verfaulenden” Westen zu leben.

Antwort: Wissen Sie, es ist unterschiedlich. Es gibt Leute, die sind mit so viel althergebrachtem Patriotismus durchtränkt, dass sie sich hier schwertun. Außerdem gibt es viele russische Diplomaten, die kaum Fremdsprachen beherrschen.

Frage: Wie bitte?

Antwort: Ja, sie beherrschen kaum Fremdsprachen. Ich kenne Diplomaten, die überhaupt keine Fremdsprachen sprechen und trotzdem erfolgreich ihren Dienst verrichten. Und wenn du eine Sprache schlecht beherrscht, ist es schwierig, dich mit den Einheimischen zu unterhalten, sogar im Geschäft. Umso mehr, als viele direkt auf dem Botschaftsgelände wohnen,das heißt – keine Fremdsprachen, nur russisch.

In den 1990-er Jahren sind viele dann freiwillig gegangen, das waren meistens die dynamischsten und aufgeschlossensten Mitarbeiter. Geblieben sind die faulsten, die trägsten Leute, die dann Karriere gemacht haben. Die Führungsebene des Außenamtes besteht heute aus genau solchen Leuten. Wenn Sie sich die Karrierewege der heutigen Führung anschauen, werden Sie bemerken, dass viele von ihnen in den 1990-er Jahren eine Blitzkarriere hingelegt haben und einige Stufen überspringen konnten, weil es viele vakante Stellen gab. Heute geht das nicht mehr so schnell, alle Stellen sind besetzt, und die Leute sitzen dort wie angenäht.

Frage: Nach dem Beginn des Krieges hat der Westen ziemlich rasch reagiert. Können die Sanktionen, die eingeführt wurden, eine Wirkung entfalten bei den Leuten, die in Russland die Entscheidungen treffen?

Antwort: Wir sehen, dass die Sanktionen, die bereits 2014 eingeführt wurden, Sanktionen gegen den Export bestimmter Warengruppen nach Russland, Hochtechnologiegüter, Dual Use-Güter [Produkte, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können] ihre Wirkung schon gezeigt haben. In Russland gibt es wenige High-Tech-Waffen, wir sehen, dass die russische Armee im wesentlichen eine Armee sowjetischer Art geblieben ist. Sie kämpft mit den Mitteln der Quantität und mit Waffen, die zwar nicht aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammen, aber deren Arsenal nach diesem Modell aufgebaut wurde. Das sind vor allem weitreichende Artilleriegeschütze u.ä., Präzisionsraketen haben wir praktisch keine, auch die “Kalibr” [russischer Lenkwaffen-Typ] sind nicht so treffsicher wie angekündigt, weil wir keine Warenbasis für Elektronikbauteile haben. Es wird alles importiert und jetzt über dunkle Kanäle illegal eingeführt. Aber das reicht nicht für ein normales Funktionieren der Armee. 

Und da hilft dann auch kein China, davon bin ich überzeugt. Die Chinesen haben auch jede Menge private und halbprivate Firmen [die in diesen Sektoren produzieren], und die wollen sicher nicht gegen die Sanktionen der Amerikaner und Europäer verstoßen. Das heißt, ein dünnes Rinnsal [an Warenlieferungen] wird es geben, aber das ist nicht ausreichend. Die Sanktionen können den Krieg nicht sofort beenden, aber sie sollen es immer schwieriger machen, ihn fortzuführen. Das heißt, die Sanktionen sind ein langfristiges Instrument und sie funktionieren nicht so schnell, wie man sich das vielleicht wünschen würde. 

Aber die Vorräte an jeglicher Art von alten Waffen – Panzer, Kanonen, Geschosse – sind gewaltig, stammen noch aus den Zeiten der Sowjetunion. Wenn Putin diese Vorräte nutzen will, kann er das noch auf Jahre hinaus tun, da gehen ihm vorher eher die Leute aus, die diese Waffen auch entsprechend bedienen können.

Wie die Sanktionen psychologisch wirken, kann ich schwer sagen, aber so wie ich das sehe, ist Putin, wie man beim Schach sagen würde, in Zugzwang geraten. Also in eine Lage, aus der es eigentlich keinen guten Ausweg mehr gibt. Jede Entscheidung, die er trifft, verschlechtert die Lage nur weiter. Es haben schon jetzt alle gesehen, dass er nicht der große unbesiegbare Führer ist, als der er uns früher erschien. Dass er diesen Krieg angezettelt hat, ohne die Konsequenzen zu bedenken, und jeder weitere Schritt macht es nur schlimmer. Man kann nur hoffen, dass das alles möglichst schnell endet, ohne weitere unnötige Opfer zu fordern.

Frage: Wie kann dieser Krieg Ihrer Ansicht nach enden, wer wird ihn gewinnen?

Antwort: Ich rechne schon damit, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird, dass das nicht in einem Stellungskrieg von unbekannter Dauer enden wird, sondern dass die russischen Truppen sich zurückziehen werden, und man in Russland schließlich einsehen wird, dass es keinen Sieg geben wird. Dass das, was Putin zur Neuaufteilung der Welt versprochen hat, sein feuchter Traum bleiben wird.

Frage: Aber Sie meinten einmal, man könne jeden gewonnenen Vorteil als großen Sieg verkaufen.

Antwort: Naja, nicht buchstäblich jeden. Denn wenn Sie ursprünglich versprochen haben, die Ukraine innerhalb weniger Tage zu erobern, aber stattdessen bombardieren die Ukrainer Sewastopol oder besetzen den Donbass und rücken bis an die Grenze vor – also bitte: All das Gerede von der “zweiten Armee der Welt“ [gemeint: zweitstärkste], da fangen die Leute mit ihrer Primitiv-Rekruten-Mentalität dann an, Fragen zu stellen. Das riecht dann schnell nach Verrat und Treubruch, wie man sagt. Wer ist dann schuld? Genau die Leute, die jetzt Putin umgeben, werden fragen: “Wladimir Wladimirowitsch, wie konnte das passieren? Wir haben Ihnen geglaubt, haben eine Menge verloren, wir wurden mit Sanktionen überhäuft. Wir haben Ihnen geglaubt, und Sie haben uns verraten und betrogen.” 

Und er fängt dann natürlich auch an, Schuldige zu suchen, er muss ja erklären, wie es so weit kommen konnte, warum wir verloren haben. Und die Schuldigen müssen bekannte Gesichter sein, bedeutende Leute. Mit irgendeinem Unbekannten funktioniert das nicht, das wäre unglaubwürdig. Das heißt, Putin wird seinen Zorn auf sein unmittelbares Umfeld lenken, er wird auch glauben, dass er verraten wurde, dass nicht richtig gearbeitet wurde. Das schafft dann einen guten Boden dafür, dass sich sein Umfeld die Frage stellt, wofür sie ihn überhaupt noch brauchen. Und dann sind alle möglichen Entwicklungen denkbar.

Frage: Zum Abschluss eine persönliche Frage: Man hat Sie auf der ganzen Welt als einen mutigen Menschen wahrgenommen. Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Antwort: Mein Plan wäre, einen Anwendungsbereich für meine Fähigkeiten, für mein Wissen und meine Erfahrung in einer neuen Realität zu finden, wahrscheinlich in einer Consulting-Nische. Eine Arbeit als Experte für Sicherheitsfragen oder Fragen der Zusammenarbeit. Ich bin für jede Organisation in diesem Bereich offen. Mein persönliches Maximalprogramm – warten bis Putins Macht endet, nach Russland zurückkehren und mit meinem Wissen und meiner Qualifikation am Aufbau eines neuen, zukünftigen Russland mitwirken. Die letzten zwanzig Jahre habe ich zumindest keinen allzu großen Schaden mit meiner Arbeit angerichtet, jetzt würde ich gerne etwas wirklich Nützliches beitragen.

Hier noch einmal der Hinweis auf die eingangs erwähnten Links zur Originalseite und zur Spendenaktion:

https://truerussia.org/journal/bondarev/

https://truerussia.org/en/projects/podderzhite-proekty-nastoyashchey-rossii/

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