Das andere Russland - Sascha Skotschilenko

Ernst Trummer, 13.10.2022  

Auf die Protestaktion der jungen feministischen Künstlerin Sascha Skotschilenko aus Sankt Petersburg bin ich zum ersten Mal in der MSNBC Nachrichtenshow von Rachel Maddow aufmerksam geworden. Die Aktion ist ein Paradebeispiel von intelligentem Protest: Die Künstlerin hat Preisschilder in einem Supermarkt in ihrer Heimatstadt gegen täuschend echt aussehende Schilder ausgetauscht, die Statements gegen den Krieg in der Ukraine enthielten. Das sah dann z.B. so aus:

rferl.org/Social Media

„Die wöchentliche Inflation hat wegen unserer Kriegshandlungen in der Ukraine einen Höchststand seit dem Jahr 1998 erreicht. Stoppt den Krieg“, heißt es auf diesem Preistag, der sich erst bei genauerem Hinsehen von einem echten Preisschild unterscheidet. Die Schilder trugen unterschiedliche Botschaften (Rachel Maddow zeigt etliche von ihnen in dem eingangs erwähnten Video). Welche genau Skotschilenko an jenem verhängnisvollen Abend des 31. März verwendete, weiß sie nicht mehr, wie sie später erzählte. Auf die Spur gekommen sind ihr die Behörden durch die Anzeige einer Pensionisten, die sie dabei beobachtet hatte, wie sie die Preisschilder im Geschäft auswechselte, so das oppositionelle Online-Medium Bumaga.

Die Ermittler hätten danach noch über zehn Tage gebraucht, um die Supermarktmitarbeiter zu befragen und die Aufnahmen der Überwachungskameras auszuwerten. Und erst mit einer List sei es ihnen schließlich gelungen, Skotschilenko habhaft zu werden: Vom Handy eines ihrer Bekannten sei via Social Media ein Hilferuf wegen eines in seiner Wohnung stattfindenden Polizeieinsatzes abgesetzt worden. Die Künstlerin sei daraufhin zur betreffenden Wohnung gefahren, um nach dem Rechten zu sehen, und sei so den Fahndern in die Hände gefallen.

Ihre Hilfsbereitschaft ist ihr zum Verhängnis geworden. Wenn jemand in eine Notlage geraten oder jemandem Unrecht widerfahren war, wollte sie nicht abseits stehen. Aber eine Querulantin war sie nicht, den Konflikt mit den Behörden suchte sie nicht. Einer ihrer Freunde beschreibt die Künstlerin so: „Sie ist kein Mensch, der es sich zum Ziel gesetzt hätte, das Regime zu bekämpfen. Sie ist einfach nur ein Mensch mit einem Gewissen, und als ein solcher Mensch mit Gewissen konnte sie auf die gewissenlose Situation, die derzeit in Russland herrscht, nicht einfach nicht reagieren.“

47 Kilo Kampfgewicht, an Zöliakie und Herzrhythmusstörungen leidend, manisch-depressiv und „als Draufgabe“ auch noch lesbisch – vor so einem Menschen fürchtet sich der kleine starke Mann im Kreml so sehr, dass er ihn so lange wie möglich wegsperren lässt. Vorerst noch in Untersuchungshaft, die mittlerweile „wegen der Schwere der zur Last gelegten Verbrechen“ schon mehrfach verlängert wurde, zuletzt bis 1. November. Und das kann noch eine ganze Weile so weitergehen. Es ist eine besondere Perfidie der russischen Strafrechtsordnung, dass diese Fristendehnung praktisch grenzenlos möglich ist. In extremo muss es gar nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung kommen, um Sascha Skotschilenko dauerhaft im Gefängnis festzuhalten. Wir zitieren aus dem einschlägigen Gesetz: „Somit darf die Dauer der Untersuchungshaft bis zur Übergabe des Strafaktes an ein Gericht 18 Monate nicht überschreiten.“ Aber: „Die Dauer der Festsetzung des Angeklagten vom Tag der Übergabe des Strafaktes an ein Gericht bis zur Fällung eines Urteils darf 6 Monate nicht überschreiten.“ Und jetzt der Hammer: „Bei Prozessen in Strafrechtsfällen bei schweren und besonders schweren Verbrechen darf das Gericht diese Frist um 3 Monate verlängern.“ Und der ultimative Knock-Out: „Dabei ist die Anzahl der Fristverlängerungen zur Haltung in Untersuchungshaft durch die Gesetzgebung der Russischen Föderation nicht begrenzt.“ Die Juristen unter den Lesern mögen mir nachsehen, falls ich hier bei der Übersetzung vielleicht nicht die exakten termini technici der Rechtswissenschaft verwendet haben sollte, aber für uns Nicht-Juristen heißen die zitierten Bestimmungen im Klartext: Erst mal bis zu 18 Monate quasi ordentliche Untersuchungshaft, dann Anklage und Prozess vor Gericht. Und danach Prozessführung bis zum Sankt Nimmerleinstag, während der die Angeklagte natürlich weiterhin in Haft bleibt. Denn ob es sich bei einem Delikt um ein gewöhnliches, ein „schweres“ oder gar ein „besonders schweres“ Verbrechen handelt, bestimmt in solchen Fällen immer noch die Behörde selbst. Justitia in Russland – seit den dunkelsten Tagen des Sowjetregimes eine blinde und willfährige Komplizin der Staatsmacht.

Sprachlos hüben, mundtot drüben

In einer modernen, aufgeklärten und freien Gesellschaft würde man sich mit einer Guerilla-Aktion wie der von Skotschilenko einen Preis für besonders gelungene Protestkunst verdienen, im heutigen Russland lautet der Haupttreffer „15 Jahre Gefängnis wegen Diskreditierung der Armee.“ Das macht uns Beobachter von außen sprachlos, und die allermeisten Menschen in Russland einfach mundtot. Aber unsere Sprachlosigkeit ist nur einer Schrecksekunde geschuldet, weil wir in Europa uns einfach nicht mehr vorstellen konnten und wollten, dass der Faschismus nach den Erfahrungen der Nazi-Diktatur jemals wieder sein hässliches Haupt erheben würde. Erholen wir uns rasch von unserer Lähmung, wir riskieren hier nichts! Verstärken wir die dünnen Stimmen jener, die sich noch trauen, ihren Mund aufzumachen, vielleicht finden so auch andere ihre Sprache wieder!

Die besten Möglichkeiten, wie Sie Sascha Skotschilenko ohne jegliche persönliche Gefahr für Leib und Leben helfen können, erfahren Sie auf der Site https://skochilenko.ru/ bzw. in englischer Fassung unter https://skochilenko.ru/en. Die Unterstützungsmöglichkeiten reichen von Petitionen und Eingaben an die Staatsanwaltschaft über Briefe an Skotschilenko bis hin zu Geldspenden. Bitte nehmen Sie sich die Zeit und helfen Sie.

paperpaper.ru

Skotschilenko hat eine Schwester in Frankreich und Freunde in der Ukraine – für die Staatsanwaltschaft ein Grund, wieso ein Hausarrest für die Zeit der Ermittlungen nicht in Frage kam, und stattdessen Untersuchungshaft verhängt wurde. Aber eine Flucht aus der Heimat stand für diese mutige junge Frau ohnehin nie zur Debatte:

„Ich wollte nicht aus Russland weg und meine Kunst war immer in der russischen Sprache zuhause. Ich liebe die Geschichte, die Kultur, die Sprache meines Landes. Und ich habe für meine Liebe und für meine hartnäckige Weigerung zu emigrieren einen hohen Preis gezahlt. Ich habe mich bemüht, meine Lebensumstände zu verbessern, aber man gibt mir deutlich zu verstehen, dass solche Leute wie ich hier nicht gebraucht werden. Gebraucht werden jene, die seelenlos irgendwelche Befehle ausführen, gebraucht wird blinder Patriotismus. Mein Land dürstet nach Blut, unter anderem, wie sich jetzt gezeigt hat, auch nach meinem.“

Quellen:

https://www.msnbc.com/morning-joe/watch/john-kirby-we-want-ukraine-to-have-their-territory-back-we-want-ukraine-to-be-whole-150459973541?cid=sm_npd_ms_tw_ma

https://paperpaper.ru/sasha-skochilenko-ne-dolzhna-sidet-10-let/

https://pravo163.ru/otvety-na-naibolee-chasto-zadavaemye-voprosy-o-soderzhanii-pod-strazhej-v-sledstvennyx-izolyatorax-ugolovno-ispolnitelnoj-sistemy/

https://www.severreal.org/a/moya-strana-zhazhdet-krovi-intervyu-hudozhnitsy-sashi-skochilenko-iz-sizo/31946218.html

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