Nachrichten für Mit-Denker
Ernst Trummer, 26.2.2023
Vtoraja armija – wörtlich „zweite Armee”, gemeint zweitstärkste Armee der Welt; von Russlands Staatspropaganda mit viel Aufwand gehätschelter Nimbus von der Schlagkraft seiner Armee, der nach der schwachen Performance in der Ukraine deutliche Schrammen bekommen hat, und eigentlich nur mehr dank des gewaltigen Kernwaffenarsenals Moskaus aufrechterhalten werden kann.
Präsident Putin und Verteidigungsminister Schoigu gemeinsam auf der Jagd: Da fliegt eine Ente auf. Der Präsident legt an, zielt und schießt. Darauf Schoigu ganz verwundert: „Seltsam, Wladimir Wladimirowitsch, Sie haben die Ente doch abgeschossen – warum fliegt die einfach weiter?“
Umgemünzt auf die Leistungsfähigkeit der russischen Armee illustriert dieser Witz recht anschaulich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Jahrelang war von der „vtoraja armija“ die Rede, wenn es um die Beurteilung ihrer Kampfkraft ging. Die Sowjetunion hatte zwar das Wettrüsten und den Kalten Krieg verloren, aber Russland als ihr Rechtsnachfolger erbte ein gewaltiges Arsenal an konventionellen, biologischen, chemischen und nuklearen Waffen. Lediglich den USA fühlte man sich militärisch (noch) nicht ebenbürtig, aber ansonsten musste das stolze Russland keinen Gegner fürchten. Dann kam der 24. Februar 2022.
Ungläubig verfolgten Laien genauso wie professionelle Militärs die Nachrichten während der ersten Tage nach dem Überfall auf die Ukraine, die sehr bald eine überraschende Tendenz erkennen ließen: Die Russen stießen zwar an mehreren Fronten gleichzeitig vor, der befürchtete Enthauptungsschlag nach dem Muster von Shock-and-Awe blieb aber aus. Sinnbildlich für die Schwierigkeiten der russischen Armee war der bis zu 60 km lange Konvoi an Panzerfahrzeugen vor Kiew, der Ende Februar von den Verteidigern mit relativ einfachen militärischen Mitteln gestoppt und großteils vernichtet werden konnte, ohne dass die Russen dem etwas entgegenzusetzen hatten. Wie konnte das passieren?
Experten haben schon bald nach der Invasion gleich mehrere Schwächen in Russlands Militärmaschinerie ausgemacht: eine allgemein mangelhafte logistische Vorbereitung, die sich etwa darin äußerte, dass viele Fahrzeuge einfach wegen leerer Tanks liegen blieben und aufgegeben werden mussten, oder dass die vorstoßenden Einheiten nur unzureichend mit Munition und Verpflegung versorgt werden konnten; zu steile Hierarchien in den Kommandostrukturen, wodurch selbst kleinere taktische Entscheidungen immer den langen Dienstweg gehen mussten, sodass oft viel zu träge auf neue Entwicklungen auf dem Schlachtfeld reagiert wurde; oder etwa das russische Unvermögen, die einzelnen Waffengattungen koordiniert so einzusetzen, dass die Verteidiger von der geballten Übermacht der Angreifer überwältigt gewesen wären. Das Einzige, was den Ukrainern tatsächlich immer wieder Probleme bereitet, ist die schiere Masse an Soldaten, die von der russischen Generalität buchstäblich ins Feuer geschickt werden.
„Grab-Mobilmachung“
Überwiegend werden für diese Himmelfahrtskommandos die erst kürzlich zwangsrekrutierten Männer aus der ersten Mobilmachungswelle vom vergangenen Herbst eingesetzt. Diese militärisch oft völlig unerfahrenen Rekruten werden meist bewusst als Kanonenfutter in die Schlacht geworfen. Ihre Integration in bestehende Kampfverbände würde deren Schlagkraft eher verringern. Meist werden sie in isolierten Gruppen belassen und an die vordersten Linien beordert. Ihre taktische Aufgabe haben sie erfüllt, wenn die Ukrainer sie unter Beschuss nehmen und so ihre eigenen Stellungen verraten. Erst in der zweiten Welle stoßen dann die kampferprobten Einheiten nach, oft buchstäblich über ihre gefallenen oder verwundeten Kameraden hinweg. Diese menschenverachtende Praxis ist mittlerweile durch zahllose Berichte russischer Soldaten bestätigt worden. Das zynische Kalkül ist jedenfalls aufgegangen: Der Vormarsch der Ukrainer, der nach der Rückeroberung der Stadt Cherson viele schon von der Befreiung der Krim hat träumen lassen, ist seither an praktisch allen Frontabschnitten wieder zum Erliegen gekommen. Und das ist keineswegs nur den widrigen Bedingungen des Winterkriegs geschuldet.
Bald nach der Verkündung der mobilisatsija („Mobilmachung“) durch Wladimir Putin am 21. September tauchte in der ukrainischen Propaganda das Kunstwort mogilisatsija auf – abgeleitet vom russischen Wort mogila für „Grab“. „Grab-Mobilmachung“ ist deshalb so treffend, weil die Art und Weise, wie die Einberufungen umgesetzt wurden, oft schlimme Vorahnungen weckten, wie es den neuen Rekruten an der Front ergehen wird. Legendär wurde in diesem Zusammenhang ein Handyvideo aus einem Einberufungszentrum: Eine Instruktorin erteilt neu eingetroffenen Männern den gut gemeinten Rat, sie sollten sich von ihren Freundinnen, Frauen oder Müttern Tampons mitgeben lassen, die sie für eine Wund-Erstversorgung nach einer Schussverletzung verwenden können.
So dauerte es nicht lange, bis die ersten zivilgesellschaftlichen Initiativen auf den Plan traten, um die missliche Lage der Mobilisierten durch Sachspenden etwas zu lindern. Eine der bekanntesten dieser Initiativen ist die Bewegung „Volksfront“, die auf ihrem Portal „Alles für den Sieg“ eine Liste der am dringendsten benötigten Güter veröffentlicht hat: Angefangen von elementaren persönlichen Ausrüstungsgegenständen für Soldaten wie Splitterschutzwesten, Helme, oder Feldapotheken bis hin zu anspruchsvollerem Gerät wie Zieloptiken, Nachtsichtgeräte, Tablets, Notebooks oder Quadrocopter mit Videokameras. Sammelstellen gibt es in allen 85 Regionen der Russischen Föderation. Und wer keine Sachspenden abliefern kann oder will (die Preise für diese militärischen Güter haben aufgrund der gestiegenen Nachfrage empfindlich angezogen), kann natürlich auch gerne Geld überweisen. Glaubt man den Initiatoren und ihren Erfolgsmeldungen auf Social Media, ist die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung jedenfalls ungebrochen hoch.
„Volksfront. Alles für den Sieg! Unterstütze die Kämpfer der LDNR“
Quelle: Stadtverwaltung Kemerovo
https://kemerovo.ru/aktualno/vse-dlya-pobedy-74412/
Yachten statt Raketen
Von den alljährlich am 9. Mai auf dem Roten Platz oder zu ähnlichen Anlässen stolz präsentierten neuen Waffen ist auf den Schlachtfeldern in der Ukraine erstaunlich wenig zu sehen. Das gilt für die von Wladimir Putin immer wieder martialisch beworbene Hyperschall-Rakete „Kinschal“ genauso wie für den angeblichen Wunderpanzer T-14 „Armata“. Es gibt sie nur in höchst bescheidenen Stückzahlen. Und die im Dreischichtbetrieb produzierenden Rüstungsunternehmen können diese Defizite jetzt auch nicht mehr wettmachen, weil es aufgrund der Wirtschaftssanktionen allerorten an den nötigen Komponenten und Materialien fehlt. So sah sich die stolze russische Armee bereits im vergangenen Sommer genötigt, Drohnen im Iran zu kaufen, weil die eigene Rüstungsproduktion nur mehr den Low-Tech-Bedarf der Truppe abzudecken vermag.
Die Sanktionen erklären diese Defizite allerdings nur zum Teil. Eine vielleicht noch größere Rolle spielt die in Russland allgegenwärtige Korruption. Das Team des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hat kurz vor Weihnachten eine aufsehenerregende Aufdecker-Story über das Ehepaar Swetlana und Timur Iwanow gebracht. Iwanow ist Russlands langjähriger stellvertretender Verteidigungsminister, zuständig für sämtliche Bauvorhaben des Ministeriums, von Militärkrankenhäusern bis zu Militärflughäfen. Das Ehepaar hat alljährlich seinen Urlaub an der Côte d’Azur verbracht, wo es zwischen 2013 und 2018 allein für die Miete ihrer Villa in Saint Tropez 850.000,- EUR ausgegeben hat. Dazu kamen 250.000,- für Yachten und 200.000,- für einen Rolls Royce. Gattin Swetlana hat ihr Luxusleben immer wieder auf Instagram zur Schau gestellt, Nawalnys Aufdecker haben ihren Email-Account gehackt und unzählige Belege für ein Leben in Glanz und Glamour gefunden: Zehntausende Euro für Partys, Kleider, Schmuck und Luxusuhren. Mit einem einzelnen Ministergehalt gehen sich solche Angebereien nicht aus. Es ist eine besonders perfide Ironie der Geschichte, dass nun ausgerechnet Vize-Verteidigungsminister Iwanow mit dem Wiederaufbau der Stadt Mariupol betraut wurde, die von der russischen Armee nach wochenlanger Belagerung dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Aber die Zustände im Verteidigungsministeriums sind nur ein Spiegelbild der Verhältnisse im gesamten Staatswesen, in dem das Geld der russischen Steuerzahler zu einem beträchtlichen Teil in die Taschen korrupter Beamter und Funktionäre fließt. So gleicht Russlands Armee in weiten Teilen einem riesigen Potemkinschen Dorf. Es ist nicht absehbar, dass sich ihre Lage im Jahr zwei des offenen Krieges in der Ukraine wesentlich bessert. Mark Hertling, Ex-General der US-Army und ehemaliger hochrangiger Ausbildungsoffizier in Europa, resümierte das Dilemma von Putins Militärmaschinerie letzten September in einem Podcast-Beitrag so: “Sie können eine Armee nicht einfach über Nacht reparieren. Besonders, wenn Sie solche Probleme mit der Kampfmoral haben wie die russische Armee, wenn es Probleme mit der Ausrüstung und der Leadership gibt und vor allem, wenn es rundherum so viel Korruption gibt.”
Putins Gegner gestehen seiner Streitmacht übrigens gerne den Status der zweitstärksten Armee zu – aber nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine.
Quellen:
https://www.youtube.com/watch?v=fEi8CYofHMc
https://ria.ru/20221228/front-1841722359.html
https://www.thebulwark.com/podcast-episode/general-mark-hertling-russias-awful-army/
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