Glossar - Putinferschtejer

Ernst Trummer, 6.11.2022  

Путинферштеер

[Putinferschtejer]

Putinferschtejer – Kampfbegriff zur Punzierung einer allzu unkritischen Haltung gegenüber Wladimir Putin; vorwiegend verwendet von Proponenten der russischen Opposition; Adressaten – vornehmlich Politiker, Journalisten, Wirtschaftsvertreter im Westen.

Die etymologischen Wurzeln dieses Neologismus bedürfen keiner großen Erklärung. Interessant ist aber, wie schnell dieser Begriff Eingang in den politischen Diskurs in Russland und in der Ukraine gefunden hat. Seit der Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 ist der Begriff ein Gemeinplatz in der politischen Auseinandersetzung, der mit dem Überfall auf die Ukraine am 24.2.2022 ein dramatisches Revival erlebt hat. Mindestens genauso weit verbreitet ist der Begriff aber auch im politischen Diskurs in Westeuropa. Kurz vor dem Einmarsch der russischen Armee drängte sich das Wort vom Putinversteher mit einem Knalleffekt wieder einmal ins öffentliche Bewusstsein: Der Chef der deutschen Marine, Vize-Admiral Kay-Achim Schönbach hatte sich im Rahmen eines von ihm gehaltenen Vortrags in Neu-Delhi Ende Januar an einer psychologischen Deutung des Phänomens Putin versucht. Sein Befund: Was Putin in der weltpolitischen Arena eigentlich einfordere, sei Respekt. Und ginge es nach ihm, Schönbach, so sei ihm dieser Respekt auch zu zollen, das koste nichts, und wahrscheinlich verdiene er ihn auch. Als Schönbach auch noch apodiktisch konstatierte, die Halbinsel Krim „ist weg, sie wird nie zurückkommen, das ist eine Tatsache“, hatte er sich endgültig um Kopf und Kragen geredet. Am 22. Januar musste sich die Bundeswehr nach einem neuen Flottenchef umsehen.

Auch ohne küchenpsychologische Einfühlungsversuche (und auch ich, fast zwei Köpfe größer als der starke Mann im Kreml, hätte da einen ähnlich fundierten Erklärungsansatz beizusteuern, wenn man mich fragte) war den Verständnisvollen und Wohlgesonnenen klar, woran es krankte, und bei wem die Bringschuld lag: Der Westen habe Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrfach übervorteilt, vor allem im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands und der anschließenden NATO-Osterweiterung. Und als (ehemalige) militärische Supermacht habe Russland quasi ein Anrecht darauf, über die politischen Entwicklungen bei seinen unmittelbaren Nachbarn mitzubestimmen – eine These mit einem klaren Subtext: Auch die USA würden ja nicht tatenlos zusehen, wenn in ihrem Hinterhof Entwicklungen passieren, die in klarem Widerspruch zu ihren eigenen Interessen stehen.

Die Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten hat aber auch einen historischen Hintergrund: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Russische Föderation als deren Rechtsnachfolgerin anerkannt, obwohl etwa auch Weißrussland und die Ukraine, damals noch sowjetische Teilrepubliken innerhalb der UdSSR, selbständige Mitglieder der UNO seit deren Gründung im Jahr 1945 waren. Es verwundert nicht, dass Deutschland nach der jahrzehntelangen Abarbeitung an seiner Nazi-Vergangenheit die Vorstellung in sein kollektives Bewusstsein übernahm, dass man gegenüber Russland, dem Hauptopfer der Hitler-Diktatur, gerade als Deutscher mit besonderer Rücksichtnahme auftreten müsse. Das Paradoxe daran – die Ukraine hat ebenso wie Weißrussland kaum weniger unter der Deutschen Wehrmacht gelitten als die Russische Föderation.

So ist für alle Vertreter des politischen Spektrums ein eigenes Motiv für ihr je spezielles „Putinverstehertum“ – ja auch dieser Begriff hat Eingang in die russische Sprache gefunden: Путниферштеерство [Putinferschtejerstvo] – dabei. Munter versammeln sich so die unterschiedlichsten Proponenten hinter ein- und demselben Begriff: Etwa die Publizistin Gabriele Krone-Schmalz mit ihrem Buch „Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“; der medienaffine Populärphilosoph Richard David Precht, der den Sinn des Widerstands der Ukraine gegen Russland infrage stellt oder Garantien für Russland verlangt, wonach die Ukraine nicht der NATO beitreten dürfe; die Unterzeichner der offenen Briefe an Olaf Scholz und an die politischen Führer im Westen mit dem Aufruf zur Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine und dem Appell, sich für die rasche Aufnahme von Friedensverhandlungen mit Wladimir Putin einzusetzen (Juli Zeh, Jakob Augstein, Josef Haslinger, Harald Welzer, Richard David Precht u.a.) und natürlich eine lange Liste von Politikern von Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, über Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel bis zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, alle SPD, bis zu Sahra Wagenknecht (Die Linke) und der AfD. Und über allen Ex-Kanzler Gerhard Schröder, fürstlich entlohnter Lobbyist und Multifunktionär in russischen Staatsbetrieben, sowie persönlicher Freund von Wladimir Putin, den er einst zum „lupenreinen Demokraten“ adelte.

Auch die CDU unter Ex-Kanzlerin Angela Merkel war da keine Ausnahme. Und in dieser Aufzählung sind die Vertreter der Wirtschaft und wirtschaftsnaher Lobbys noch gar nicht erwähnt. Nur zu bereitwillig haben sich diese der lukrativen, auch von der hohen Politik forcierten Idee verschrieben, ein verhaltensauffälliges Russland entschärfe man am besten durch den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen. Es war quasi politischer Common Sense in Deutschland und damit in großen Teilen der EU, dass man die Befindlichkeiten Putins als Ausdruck der legitimen geopolitischen Interessen Russlands eben als realpolitische Notwendigkeit akzeptieren und die eigene Politik daran anpassen müsse. So war das ebenfalls gebräuchliche Russlandferschtejer gewissermaßen der große Bruder von Putinferschtejer, wenngleich letzterer aufgrund der mittlerweile 22-jährigen Alleinherrschaft Putins zum dominanten Begriff wurde.

Aber es ist keinesfalls so, dass es nicht auch im übrigen Europa Sympathien für Wladimir Putin gegeben hätte oder nach wie vor gibt. Dafür sorgten und sorgen Figuren wie Marine Le Pen in Frankreich, Ex-Premier Silvio Berlusconi, eben erst wieder für politische Würden in Italien wiederbelebt, sein Gesinnungsgenosse, Lega-Generalsekretär Matteo Salvini, sowie der ewige Viktor Orban in Ungarn und last but not least große Teile der FPÖ in Österreich.  Wladimir Putin hat es nicht nur verstanden, seinem eigenen Volk den ohnehin nur rudimentär vorhandenen Widerstandsgeist auszutreiben, sondern auch im Ausland dafür zu sorgen, dass seine politischen Zumutungen von seinen Apologeten zuverlässig in eine Watte aus Rücksichtnahme und Relativierung gepackt werden.

Vor ziemlich genau acht Jahren, am 12. November 2014 hielt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch die Festrede zur Eröffnung der Buchmesse „Buch Wien“.  In seiner Ansprache sparte er nicht mit Kritik an der EU und fasste die Diskrepanz zwischen der Kriegswirklichkeit im Donbass und der blauäugigen Beurteilung der Ereignisse nach Euromaidan und Krim-Annexion durch den Westen so zusammen:

Wenn ich sage: „Bei uns herrscht Krieg“, verbessern mich meine deutschen Freunde geduldig wie Erwachsene ein Kind: „Ihr durchlebt eine Krise.“ Obwohl es in Wirklichkeit nicht unsere Krise ist, sondern die Krise Russlands, seiner halbirren imperialen Ambitionen, die sich zum Glück in unserer Welt nicht mehr vollständig verwirklichen lassen. Daher rührt ja auch seine Krise. Und wenn ich sage, dass der russische Präsident unser Feind ist, dann versichern sie noch geduldiger: „Er ist Partner.“

Aus meinen unzähligen Gesprächen im Westen, in Europa, geht hervor, dass man uns nicht nur nicht versteht, sondern, schlimmer noch: dass man gar nicht versucht, uns zu verstehen. Stattdessen treffe ich viel zu häufig Leute, die Putin verstehen. Es bleibt eine schmerzhafte Frage, warum dem friedlichen, politisch korrekten Europa der Aggressor näher und daher verständlicher erscheint als das Opfer seiner Aggression.

Zwar hat der Überfall auf die Ukraine im vergangenen Februar bei vielen Putinverstehern ein Umdenken bewirkt, einige zeigten sich zerknirscht und gaben reumütig Fehler zu wie etwa Frank-Walter Steinmeier. Andere beharrten darauf, im Wesentlichen nichts falsch gemacht zu haben, wie etwa Altkanzler Schröder, oft mit der Rechtfertigung, man müsse die Kommunikationskanäle offen halten, dürfe auch in stürmischen Zeiten nicht die letzten Brücken abreißen.

Es ist aber auch keine allzu gewagte Prognose zu behaupten, dass im kommenden Winter der Chor der Putinversteher wieder anschwellen wird. Energieknappheit, Inflation und mangelnde Versorgungssicherheit werden vermehrt wieder jene auf den Plan rufen, die uns einreden werden, dass wir uns mit den Sanktionen letztlich nur selbst schaden, dass irgendwann auch die Ukraine Kompromissbereitschaft zeigen müsse und dass man Putin eine „gesichtswahrende Lösung“ nicht gänzlich verweigern dürfe.

Auch beim ideologischen Gegner Nummer eins, in den USA, verfängt die Anziehungskraft des Putinverstehertums. Allen voran Fox News und sein Chefeinpeitscher Tucker Carlson sorgen dafür, dass dieses Thema bei Amerikas Rechten aktuell bleibt, gerade auch jetzt, unmittelbar vor den Mid-Term-Wahlen. Anstelle des naheliegenden Putin understander schlägt übrigens Stewart McDonald, schottischer Abgeordneter und Kolumnist im The Scotsman, das ungleich treffendere Putin whisperer vor. Also – Tucker Carlson als Putinflüsterer – mit diesem schrägen Bild entlasse ich Sie jetzt in Ihr Kopfkino…

Ein letztes noch: Während meiner Recherchen zu diesem Artikel gehen in Deutschland gerade wieder die Wogen wegen eines umstrittenen öffentlichen Auftritts der notorischen Putinversteherin Krone-Schmalz hoch. Lesen Sie dazu ein sehr ausführliches Interview mit Prof. Dr. Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Uni Tübingen, in dem er sehr klar die Diskurs-Methoden der Putin-Apologeten darstellt und zeigt, wie man sich gegen deren manipulative Argumentation wappnen kann. Sehr empfehlenswert!

https://www.t-online.de/region/stuttgart/id_100072528/-die-chance-zum-kritischen-diskurs-hat-die-vhs-reutlingen-leichtfertig-verspielt-.html

Quellen:

https://www.sueddeutsche.de/politik/schoenbach-marine-ukraine-russland-nato-olaf-scholz-1.5513533

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/juri-andruchowytsch-die-eu-enttaeuscht-die-ukraine-13273068.html?printPagedArticle=true#pageIndex_6

https://www.scotsman.com/news/opinion/columnists/russias-war-on-ukraine-western-apologists-for-vladimir-putin-putinversteher-on-extreme-right-and-left-must-be-ignored-stewart-mcdonald-mp-3844631

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