Das Mobilmachungsdilemma

Ernst Trummer, 17.9.2022 (mit einer Aktualisierung vom 21.9.2022)  

Der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine zeigt, dass die russische Armee nicht nur große logistische Probleme hat, sondern auch mit einem immer akuter werdenden Personalmangel konfrontiert ist. Die von vielen mittlerweile vehement geforderte Mobilmachung birgt jedoch zahlreiche Risiken für das Regime.

Als Wladimir Putin am 25. August per Dekret beschloss, die Mannstärke der russischen Armee mit 1. Jänner nächsten Jahres auf 1,15 Millionen aufzustocken, was aktuell einem Plus von 137.000 Personen gleichkommt, waren sich die russischen Experten nicht ganz einig, inwieweit diese Entscheidung von der aktuellen Lage an den ukrainischen Frontabschnitten beeinflusst war. Am wahrscheinlichsten gilt die Annahme, dass der russische Oberbefehlshaber damit auf zukünftige Erfordernisse der modernen Kriegsführung reagiert habe, die vermehrt nach gut ausgebildeten Spezialisten in sämtlichen Waffengattungen sowie der immer wichtiger werdenden Disziplin der hybriden Kriegsführung verlange. Gleichzeitig werde damit aber wohl auch der Notwendigkeit Rechnung getragen, dass in den „befreiten Gebieten“ der Ukraine ein ausreichend personalstarkes Besatzungsregime auf Jahre hinaus zu installieren sei, wie etwa Aleksandr Bartosch, korrespondierendes Mitglied der russischen Akademie für Militärwissenschaften gegenüber der Zeitung Vzgljad meinte: „Die befreiten Gebiete werden nur dann als die unsrigen betrachtet werden, wenn unsere Streitkräfte dort permanent stationiert sind.“ 

Nach nunmehr über einem halben Jahr Krieg, in dessen Verlauf die russische Armee zuletzt an den nordwestlichen Bezirken des Donbass-Gebietes deutlich in die Defensive geraten ist, sind sich mittlerweile Militärexperten auf beiden Seiten der ideologischen Trennlinie einig, dass die russischen Streitkräfte an einem akuten Personalmangel leiden. Anzeichen dafür gab es schon relativ bald nach dem Ende der für die Russen so schmachvoll verlaufenen ersten Kriegsphase mit dem gescheiterten Sturm auf Kiew: Die russischen Verluste an Gefallenen und Verwundeten gingen schnell in die Tausende, und immer dringender stellte sich die Frage, wie diese kurzfristig am besten wettzumachen wären. Meldungen, wonach die Russen sogar in Syrien oder einigen befreundeten afrikanischen Ländern Soldaten gezielt anwerben, entsprangen vielleicht mehr dem Wunschdenken der ukrainischen Propaganda, als dass sie den Tatsachen entsprachen. Dennoch häuften sich die Erkenntnisse der ukrainischen Frontaufklärung und ihrer NATO-Partner, dass die russische Armeeführung Schwierigkeiten hatte, ihre Einheiten in ausreichender Mannstärke kampfbereit zu halten.

So wurden in Militärkreisen auch bald Stimmen laut, die mit einer baldigen Generalmobilmachung in Russland spekulierten. Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, dass sich Wladimir Putin vor einem solchen Schritt offenbar nicht weniger fürchtet als die ukrainische Militärführung oder die Öffentlichkeit im Westen, in der das Bild von der alles überrollenden „russischen Dampfwalze“ als Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute in kollektiver Erinnerung geblieben ist. 

Eine Mobilmachung in Russland würde nämlich die Ausrufung des Kriegszustands voraussetzen und damit das Narrativ von der „militärischen Spezialoperation“ abrupt zum Einsturz bringen: Aus einer leider notwendigen Unternehmung von Profis („Entnazifizierung!“ „Demilitarisierung!“), die den Alltag der einfachen Bürger in keiner Weise tangiere, würde mit einem Mal eine gesamtnationale Kraftanstrengung, die dem einen Teil der Bevölkerung dein Einsatz von Leib und Leben abverlangt und dem anderen die Unterordnung aller persönlichen Interessen unter die kollektiven Zumutungen der Kriegswirtschaft.

Wolodymir Selenskij und seine Generäle haben bisher streng darauf geachtet, dem Kreml keinen Anlass für einen solch weitreichenden Schritt zu liefern. Dieser Anlassfall wäre praktisch nur dann gegeben, wenn es zu einem direkten Angriff auf russisches Territorium kommt – oder zu einem Ereignis, das sich als direkte nationale Bedrohung für Russland deuten ließe. Für die wenigen Aktionen, die in diese Richtung zu interpretieren wären, hat die Ukraine offiziell nie die Verantwortung übernommen: ein vermeintlich von Hubschraubern in Brand geschossenes Treibstofflager in der russischen Grenzstadt Belgorod, ein Drohnenangriff auf eine Raffinerie in Nowoschachtinsk oder die bisher vielleicht größte Schmach für Russland – die Versenkung des russischen Raketenkreuzers „Moskwa“, des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte.

Eine Mobilmachung ohne die oben genannten Gründe wäre für Putin gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, mit seiner Spezialoperation gescheitert zu sein, und kommt für ihn daher nicht infrage. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, der gegen diesen Eskalationsschritt spricht – die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass die mit einer Mobilmachung zwangsläufig einhergehende Verschlechterung der Stimmung in der Bevölkerung letztendlich dazu führt, dass sich die Zwangsrekrutierten mit der Waffe in der Hand gegen die eigene Führung wenden könnten. Der letzte, der diese Erfahrungen machen musste, war Zar Nikolaus II. 

Fürchtet „Zar“ Putin ein ähnliches Schicksal? Man darf zumindest annehmen, dass er das Schreckensszenario eines von den Volksmassen ausgehenden Umsturzes oder eines Bürgerkrieges nicht gänzlich ausschließt, was folgende Episode sehr anschaulich demonstriert: Als die Duma, das Unterhaus des russischen Parlaments, kürzlich zu ihrer Herbst-Session zusammentrat, wetterte Gennadij Sjuganow, ewiger Führer der postsowjetischen Kommunisten, gegen die schwache Performance der russischen Armee und propagierte eine Mobilmachung als Lösung aller militärischen Probleme. Die oppositionellen Blogger berichteten postwendend, wie die Kremlideologen den Pressesprecher Sjuganows anschließend derart schroff ins Gebet nahmen, dass er bei einem Auftritt im staatlichen Fernsehen zurückruderte und wortreich erklärte, sein Chef habe mit seinem Vorschlag der Mobilmachung lediglich gemeint, dass man die Wirtschaft effizienter auf die Bedürfnisse der Spezialoperation ausrichten müsse.

Die Optionen für Putin sind also dünn gesät. In die Bresche sprangen zuletzt zwei Akteure, die unter Putin groß wurden, und deren Los wohl eng mit dem seinen verknüpft ist. Der eine ist Ramsan Kadyrow, der ebenso mächtige wie in den politischen Zirkeln der Hauptstadt verhasste Führer der Tschetschenen. Von den ersten Tagen des Überfalls auf die Ukraine an nutze Kadyrow jede sich bietende Gelegenheit, um sich als besonders glühender Unterstützer der Spezialoperation zu produzieren – was ihm schnell den Ruf einbrachte, er und seine Truppen seien mehr mit dem Posieren für ihre Instagram-Auftritte beschäftigt als mit dem entbehrungsreichen und gefährlichen Kriegshandwerk selbst.

Zuletzt machte Kadyrow wieder von sich reden als er via Social Media zur von ihm so genannten „Eigenmobiliserung“ aufrief: Die politischen Führer in den Regionen Russlands mögen doch aktiv Freiwillige rekrutieren, entsprechend ausrüsten und in die Ukraine schicken. Seine einfache Rechnung – bei auch nur 1.000 neu angeworbenen Kämpfern aus jeder Region des russischen Riesenreichs kämen schon 85.000 frische Soldaten zusammen, eine beachtliche Streitmacht. Einige Gouverneure haben Kadyrows Appell schon aufgenommen und melden Vollzug. Kadyrow weiß, dass er viele Feinde vor allem in den Moskauer Sicherheitskreisen hat. Einen Sturz Putins würde er zumindest politisch wohl nicht überleben.

Auch Jewgenij Prigoschin hat seinen Aufstieg dem russischen Präsidenten zu verdanken. Im Westen unter dem wenig Ehrfurcht gebietenden Beinamen „Putins Koch“ bekannt, gilt Prigoschin als treuer Diener seines Herrn. Westliche Investigativjournalisten wie Geheimdienste halten ihn für den Organisator der vielzitierten St. Petersburger Trollfabrik, die mit gezielten Desinformationskampagnen in den sozialen Medien die Autorität des politischen Establishments in Europa und den USA zu unterminieren versucht. 

Bislang stets um Diskretion bei seinem Wirken für Putin bemüht, hat Prigoschin jüngst umso größeres Aufsehen erregt, als ein Handyvideo aus einem Straflager in der russischen Provinz an die Öffentlichkeit kam. Darauf zu sehen: ein feister Glatzkopf, der wie Prigoschin aussieht und wie dieser spricht. Er wendet sich an eine große Gruppe von Häftlingen, die sich auf dem Appellplatz versammelt haben. Prigoschin verspricht ihnen Begnadigung und einen großzügigen Sold, wenn sie der „Gruppe Wagner“ beitreten und sich freiwillig für den Kampfeinsatz in der Ukraine melden. „Wagner“ gilt als des Kremls Werkzeug fürs Grobe und wird für zahlreiche Mordanschläge und Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Prigoschin, der in dem Video seine zwei vom Präsidenten verliehenen Orden „Held Russlands“ trägt, inszeniert sich bei seinem Auftritt als mit umfassenden Vollmachten ausgestatteter Vollstrecker von Putins Willen.

Der russische Menschenrechtsaktivist Wladimir Osetschkin, Begründer der Internet-Plattform Gulagu.net, die sich dem Kampf gegen staatliche Folter, Korruption und Willkür verschrieben hat, schätzt in einem Interview mit dem Youtube-Kanal Chodorkovskij LIVE die Zahl der bereits rekrutierten Gefängnisinsassen auf über 3.000 Mann. Dank der Unterstützung durch den Geheimdienst FSB rechnet Osetschkin mit einem Potential von bis zu 20.000 „Wagner“-Rekruten aus den russischen Straflagern und Gefängnissen. 

Dass sich die solcherart für den Krieg in der Ukraine mobilisierten Männer in die völlige Abhängigkeit der „Wagner“-Kommandeure begeben, sei nicht allen bewusst, so Osetschkin. Bei Gulagu.net habe man Kenntnis von standrechtlichen Erschießungen von mindestens fünf Ex-Häftlingen, die es sich an der Front mit ihrem Kampfeinsatz lieber noch einmal überlegen wollten. Die „Gruppe Wagner“ stehe über dem Gesetz und müsse wegen solcher Morde keine Konsequenzen fürchten. Die staatlichen Institutionen seien in Auflösung begriffen, es herrsche reine Willkür. Osetschkin: „Alle Masken sind gefallen. 

Update vom 21.9.: Mittlerweile können die Befürworter einer Generalmobilmachung einen wichtigen Etappensieg für sich verbuchen – Wladimir Putin hat sich angesichts der immer deutlicheren Misserfolge seiner militärischen Spezialoperation zur Ausrufung einer Teilmobilmachung durchgerungen. In einer langen Rede an das Volk am Morgen des 21. September rechtfertigt er diesen Schritt unter totaler Verdrehung der Tatsachen als notwendigen Akt der Selbstverteidigung gegen den kollektiven Westen, der in der Ukraine praktisch das Kommando übernommen habe und es dem „neonazistischen Regime“ in Kiew gar nicht mehr erlaube, sich auf irgendwelche Friedensverhandlungen mit Russland einzulassen. Diese Rede wird als Schandstück der Kriegspropaganda in die Lehrbücher eingehen, ihr Kulminationspunkt ist die Behauptung, der Westen habe mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Russland habe jedes Recht und sei auch jederzeit dazu in der Lage, seine territoriale Integrität zu verteidigen und im Notfall mit Atomwaffen zurückzuschlagen.

Auffallend an der Rede ist, wie sehr Putin seinen Entschluss zur Teilmobilmachung als nur gelindes Mittel der Reaktion auf die jüngsten Entwicklungen darzustellen versucht. Er betont, dass die Mobilmachung nur Reservisten betrifft, die bereits eine militärische Grundausbildung absolviert haben und deren Wissen und Erfahrung jetzt an der Front gebraucht würden. Die Männer würden noch einmal gezielt trainiert und nur bestens ausgerüstet in den Einsatz geschickt. Außerdem, so Putin, seien die neuen Rekruten in ihren Rechten, in ihrer Besoldung und ihrer sozialen Absicherung den bereits aktiv dienenden Vertragssoldaten gleichgestellt.

Putin will hier gar nicht erst den Eindruck aufkommen lassen, dass demnächst die unschuldigen Söhne der unbeteiligten breiten Masse in die Pflicht genommen werden und als Kanonenfutter an der Front verheizt werden könnten. Zu groß ist seine Sorge vor einem grundlegenden Stimmungswandel in der schweigenden Mehrheit der Russen, der letztendlich sogar seiner eigenen Macht gefährlich werden könnte.

Inwieweit diese Teilmobilmachung den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen wird beeinflussen können, wird sich erst allmählich weisen. Die Kommentatoren in Kiew zeigten sich von diesem zuletzt ohnehin schon erwarteten Schritt Putins jedenfalls genauso wenig beeindruckt wie von den ebenfalls heute angekündigten Referenden über einen Anschluss an Russland in den vier (teil)besetzten Provinzen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Eine weitere Eskalation auf den Schlachtfeldern ist aber zweifellos zu befürchten.

Quellen:

Aleksandr Bartosch in Vzgljad, https://vz.ru/society/2022/8/26/1174386.html
Andreij Piontkowskij im Interview mit dem Youtube-Kanal UNIAN, https://www.youtube.com/watch?v=pByHRHblZPo
Wladimir Osetschkin im Interview mit dem Youtube-Kanal Chodorkovskij LIVE, https://www.youtube.com/watch?v=FAP6GJZPfdQ

Wir setzen Cookies ein, um Ihnen den Besuch unserer Website so angenehm und einfach wie möglich zu gestalten. Durch die Nutzung unserer Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zur Gewährleistung des reibungslosen Ablaufs Ihres Besuchs und zur Erstellung von Statistiken zu. Weitere Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Datenschutzerklärung