Debatte - Der "gute Russe"

Ernst Trummer, 1.11.2022  

Ist das Bemühen um eine Imagekorrektur “der Russen” nur der ehrliche Versuch, das Pauschalurteil von der dumpfen Masse der zu allem bereiten Putinanhänger zu korrigieren? Oder geht es den Proponenten letztlich doch nur darum, ihre eigene Situation zu verbessern? Gibt es gar eine hidden agenda hinter der Idee vom guten Russen?

Der Überfall auf die Ukraine war erst wenige Tage alt, als sich schon die ersten russischen Initiativen formierten, deren Proponenten sich klar gegen den Krieg positionierten und sich mit der Ukraine solidarisch erklärten. Das waren noch jene ersten Wochen nach dem 24. Februar, als wir uns jeden Morgen nach dem Aufwachen vor der Nachricht fürchteten, dass Kiew über Nacht gefallen sei. Zahllose erklärte Gegner Putins – Oppositionspolitiker, regimekritische Aktivisten, Journalisten, Intellektuelle und Künstler – suchten den Weg an die Öffentlichkeit und deklarierten sich gegen den Krieg. Viele gingen den Weg über Social Media, einige gründeten Internetplattformen oder organisierten Kundgebungen auf der Straße. In Russland selbst geriet man mit solchem Engagement natürlich sehr schnell ins Visier der Strafverfolgungsbehörden, die anfänglichen Proteste auf den Straßen und Plätzen in Moskau, Sankt Petersburg, Jekaterinburg und anderen größeren Städten ebbten daher bald wieder ab.

Die gleich zu Beginn des Überfalls ausgegebene Sprachregelung, es handle sich lediglich um eine „militärische Spezialoperation“, sowie die Schließung der letzten regierungskritischen Zeitungen, TV-Sender und Nachrichten-Portale und nicht zuletzt der neu geschaffene Straftatbestand der „Diskreditierung der Armee“ mit seinem drakonischen Strafenkatalog sorgten rasch für fast gespenstische Ruhe in Russland. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch Umfragen, laut denen eine überdeutliche Mehrheit der Bevölkerung hinter Putins Entscheidung zum Einmarsch in die Ukraine stand. Viele Kommentatoren versuchten zwar, dieses Bild geradezurücken, indem sie – völlig zurecht – die Aussagekraft von Umfragen unter den Bedingungen einer Quasi-Diktatur grundsätzlich in Frage stellten. Aber der Schaden war schon angerichtet: International nahm das Bild vom hässlichen Russen immer deutlichere Konturen an. Natürlich trug auch die geschickt agierende ukrainische Propaganda nicht unwesentlich zu diesem Befund bei, aber wer würde ihr das verübeln wollen.

So war man sich vor allem in russischen Emigrantenkreisen schnell einig, dass man etwas tun müsse. Am 13. März erklärte der georgisch-russische Bestseller-Autor Grigorij Tshchartishwili, besser bekannt unter seinem Pseudonym Boris Akunin in einem Interview mit Newsmax: „Wir sind verärgert, wir sind schockiert und wir fühlen uns verantwortlich für unser Versagen, Putin nicht gestoppt zu haben. Jetzt wollen wir handeln.” Gemeinsam mit dem weltberühmten ehemaligen Balletttänzer Mikhail Baryshnikov und dem international renommierten Ökonomen Sergej Gurijew gründete er die Plattform TrueRussia unter der Generallosung „Gegen den Krieg. Für die Demokratie“. Akunins Initiative schlossen sich schnell zahlreiche prominente russische Intellektuelle und Künstler an. Ihr deklariertes Ziel ist der Kampf für die unverzügliche Beendigung des Krieges in der Ukraine und Hilfe für die Opfer von Putins Politik der Aggression. Man wolle über „gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Initiativen der russischsprachigen Diaspora in der ganzen Welt“ informieren und darüber aufklären, wie man selbst „Hilfe bekommen oder sie jenen angedeihen lassen könne, die Opfer dieses Krieges geworden sind.“ Der Wohltätigkeitscharakter der Plattform stand von Anfang an im Fokus ihrer Aktivitäten.   

Auch das Anti-Kriegs-Komitee Russlands, eine Gesinnungsgemeinschaft mehrerer prominenter Putin-Kritiker wie etwa Michail Chodorkowski oder Garri Kasparow, hegte bei seiner Gründung nur die redlichsten Absichten. „Als Bürger der Russischen Föderation sind wir gegen unseren Willen mitverantwortlich für den Bruch des Völkerrechts, für die Invasion und für das massenhafte Sterben in der Ukraine. Die Ungeheuerlichkeit der begangenen Verbrechen erlaubt es uns nicht, stumm zu bleiben oder sich mit passiver Opposition zu begnügen“, heißt es in der Grundsatzerklärung des Komitees auf seiner Homepage. 

Die Stossrichtung der Initiative hat ähnlich wie TrueRussia einen ausgeprägt gemeinnützigen Charakter, mit dem Projekt Rassvet („Sonnenaufgang“) wird zum Beispiel die Unterstützung von lokalen Freiwilligen-Initiativen und staatlichen Behörden in der Ukraine in den Vordergrund gestellt. Das Komitee nutzt die internationalen Kontakte seiner Proponenten und sammelt Geld und liefert Hilfsgüter in die Ukraine. 

In einem parallelen Projekt namens Kovtscheg („Arche“) konzentriert man sich auf die Unterstützung der eigenen Landsleute, die Russland wegen des Krieges verlassen haben. Es werden Unterkünfte organisiert, man bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche oder der Unterbringung in Bildungseinrichtungen an, stellt Kontakte zu lokalen Emigranten-Communities her und offeriert Sprachunterricht und psychologische Betreuung. Gleichzeitig versucht man auch, die lokale Vernetzung mit bereits ortsansässigen Initiativen zu forcieren. In Österreich gibt es laut Angaben der Initiatoren von Kovtscheg zwei derartige Initiativen – „Russen gegen den Krieg“ in Wien und „DEMFRAT“ Democratic Movement for Freedom in Russia, Austria. Daneben existieren in vielen Ländern lokale Ableger wie Kovtscheg Avstrija oder Kovtscheg Germania, die als Telegram-Gruppen organisiert sind.

Im vergangenen Mai aber hat das Anti-Kriegs-Komitee eine Initiative gestartet, mit der es letztlich viel Kritik einstecken musste. Es ging dabei um ein Projekt mit dem Titel Der gute Russe, das darauf hinarbeitete, eine Art Ausweis zu kreieren, mit dem sich sein Inhaber als besonders aufgeklärter Putin- und Kriegsgegner legitimieren können sollte. Träger dieser Auszeichnung sollten fortan nicht mehr der pauschalen Punzierung als Kriegsbefürworter ausgesetzt und somit von den Segnungen der westlichen Zivilisation ausgeschlossen sein. Als sich die Initiatoren der Idee quasi selbst als jene Instanz inthronisieren wollten, welche darüber befand, wer dieser Auszeichnung würdig sei, rief das einen Sturm der Entrüstung hervor, gerade auch bei jenen, mit denen man sich doch eigentlich solidarisch fühlte. Die Medienplattform Meduza hat dem Begriff des guten Russen unlängst eine ganze Ausgabe ihres Newsletter-Podcasts Signal gewidmet und darin auch genüsslich die Kritik wiedergegeben, die dieses Etikett in der Ukraine aber auch in Russland selbst ausgelöst hat. Letztlich, so der Grundtenor der Ablehnung, ginge es den Russen wie so oft wieder einmal nur um sich selbst, wenn etwa der “Guter-Russe-Pass“ zahlreiche Privilegien und Erleichterungen vorsieht, wie beispielsweise umstandslose Hotel- oder Taxibuchungen, die Eröffnung von Konten in Kryptowährung oder eine erleichterte Arbeitsplatzsuche. 

Der russischsprachige Ableger von Radio Free Europe/Radio Liberty brachte am 23. Mai eine lange Liste von Stellungnahmen, die sich kritisch, oft gespickt mit Hohn und Spott, mit der Idee vom “Guter-Russe-Pass” auseinandersetzten. Und auch in der Ukraine sahen sich viele in ihrer Skepsis gegenüber zu viel Patronanz von wohlmeinenden Russen bestätigt. Eine besonders pointierte Polemik zu diesem Thema kommt von Sergej Fursa, einem Investmentbanker und Blogger, der auf seinem Facebook-Kanal postulierte: „Die guten Russen sind uns keine Verbündeten.“ Seine etwas schräge Logik: Indem die „guten Russen“ versuchten, „allerlei Vierfachväter, Asthmatiker und 70-jährige Opas“ vor der Einziehung zum Kriegsdienst zu bewahren, nichts aber gegen die Mobilmachung selbst unternähmen, würden sie die Effizienz der Mobilmachung und damit die Kampfkraft der russischen Armee letztlich nur steigern. Paradoxerweise seien Typen wie Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow und Jewgenij Prigoschin, Chef der Söldnertruppe „Wagner“, mit ihren Brachialmethoden der Opritschnina eher dazu in der Lage, Russland – wenn auch ungewollt – zu schwächen (zur Opritschnina, dem Terrorregime einer nur dem Zaren ergebenen Leibgarde wie es sie unter Iwan dem Schrecklichen gab, welche dann bald in die sog. Smuta oder Zeit der Wirren mündete lesen Sie auch unseren Beitrag „Putin in der Sackgasse“).

Natürlich arbeite ein Alexei Nawalny nicht für Putin, natürlich könnten auch sog. „gute Russen“ Opfer der Politik Putins sein, aber indem sie gegenüber der Weltöffentlichkeit immer wieder versuchten, das Bild eines „anderen Russland“ zu evozieren, bestehe die Gefahr, dass das gegenwärtige Russland als quasi ultimativer Feind der freien Welt eben nicht vollständig zerschlagen würde. So könnte Russland bloß vorübergehend eine liberale Maske aufsetzen, bis es wieder zu Kräften gekommen sei, um dann von neuem Unheil anzurichten.

Der ukrainische Journalist Sergej Iltschenko entwirft in einem Beitrag für dsnews.ua ein kompliziertes und einigermaßen abstraktes Erklärungsmodell einer neofeudalen Ordnung ohne feudale Eliten im Russischen Imperium, die kraft ihres Wesens als kriminelle Vereinigung anstelle einer reifen Nation die Gesellschaft demografisch und ökonomisch auslauge und nur dank der Mechanismen der Expansion, dank der Eroberung neuer Ressourcen existieren könne. Bis diese schließlich erschöpft seien, sich in der Folge eine krisenhafte Situation einstelle, und das Regime letztlich kollabiere. 

Dieser Zyklus wiederhole sich in der Folge nach denselben Prinzipien, aber nicht mit derselben Qualität, weshalb der ganze Prozess einer ständigen Degradierung unterworfen sei. So sei die Chimäre vom guten Russen bestenfalls ein Designfehler innerhalb dieses Konstrukts, an der grundsätzlichen Ausrichtung und Zielsetzung ändere sich dadurch aber nichts. Das Konzept sei auch in der Ukraine selbst zuletzt stärker in den Vordergrund gerückt. Exponenten der Idee vom guten Russen verhielten sich auffallend kooperativ und würden in Einzelfällen per Dekret des Präsidenten sogar mit der ukrainischen Staatsbürgerschaft belohnt. Letztlich legitimierten sie allerdings wieder nur die Idee der „guten russischen Welt“, und für die ukrainische Gesellschaft bestehe die Gefahr, sich von diesem Blendwerk täuschen zu lassen und einem „erneuerten imperialistischen Konstrukt“ aufzusitzen, welches die nationale Selbsterfahrung behindere. 

Iltschenkos Fazit: Die Lösung kann nur eine radikale Verdrängung der russischen Kultur sein. „Nur so können wir, auf der Grundlage einer gesunden Russophobie und eines zivilen Nationalismus die russisch- und ukrainischsprachigen Patrioten der Ukraine konsolidieren, zusätzliche Stimuli für den Wechsel zur ukrainischen Sprache schaffen und das Ablassen von allem Russischen nicht aufgrund von Negation, sondern aufgrund von Ignoranz vorbereiten, weil es einfach kein Interesse mehr dafür gibt.“ 

Dieses Urteil und die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen erscheinen deutlich übertrieben und viel zu kategorisch. Ein Gesellschaftsmodell, eine Nationalidee, die sich überwiegend ex negativo definiert, ist ein Atavismus im 21. Jahrhundert. 

Was aber im Umkehrschluss auch nicht heißt, dass das Konzept vom guten Russen stimmig sein muss. Aber wer sagt denn, dass man dieses Konzept von einer überwiegend ideologischen Perspektive aus beurteilen muss? Natürlich, die Idee vom elitären Pass, der den „guten“ vom „bösen“ Russen unterscheidet, war wohl tatsächlich und im buchstäblichen Sinne zu viel des Guten. Aber genug der Aufregung – die Idee wurde ohnehin nicht verwirklicht, ihre Proponenten haben bald wieder eingesehen, dass sie sich mit diesem Thema vergaloppiert haben.

Das Grundproblem bei Debatten dieser Art ist oft, dass sowohl Befürworter wie auch Gegner mit viel zu pauschalen Zuschreibungen operieren. Wird das Engagement eines russischen Regimekritikers gegen Putins Angriffskrieg allein schon dadurch entwertet, dass dieser Kritiker vielleicht an einem Phantomschmerz über den Untergang des russischen oder sowjetischen Imperiums leidet? Wer derart absolutistisch argumentiert, steht schnell ohne Verbündete da. 

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Ich freue mich auf Ihre Kommentare!

Quellen:

https://www.newsmax.com/john-gizzi/akunin-true-russia-baryshnikov-putin/2022/03/13/id/1060978/

https://truerussia.org/

https://antiwarcommittee.info/

https://www.instagram.com/raw_vienna/

https://twitter.com/demfrat

https://www.svoboda.org/a/pasport-horoshego-russkogo-sotsseti-ob-idee-kasparova-i-gudkova/31862244.html

https://www.facebook.com/sergey.fursa/posts/pfbid02Zpzb8vGGU3ReWw24iwvvcjJ1TV5Fyh2ZkuJYHgPw9RWYk42kL9CscqjiRzjrn1qRl

https://www.dsnews.ua/society/posledniy-kozyr-kremlya-kak-nam-vybit-ego-04102022-467181

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