"Der Tod war früher ein außergewöhnliches Ereignis, ein Schockerlebnis. Heute ist er allgegenwärtig"

Sergej Wasilewskij für die belarussische Online-Zeitung Salidarnasts, gekürzte Übersetzung Ernst Trummer 25.11.2022

Quelle: https://gazetaby.com/post/psixolog-yanchuk-ranshe-smert-cheloveka-byla-ekskl/188447/

Interview mit Vladimir Jantschuk, Professor für Psychologie an der staatlichen Universität Minsk, Belarus. Wie sich die Spirale des Hasses weiterdreht und was die Anschauung des Krieges im Life-Modus mit uns macht.

Frage: Zu Beginn des Krieges hat sich die russische Propaganda unmissverständlich auf die Annahme gestützt, dass es auf der einen Seite das einfache ukrainische Volk gibt, und auf der anderen gewisse Nazis, welche die Macht an sich gerissen haben und ihre Mitbürger unterdrücken. Neun Monate später zeigt diese Propaganda unverhohlene Schadenfreude über zerstörte Krankenhäuser und Kraftwerke und wünscht jetzt auch dem einfachen Volk, dass es im Winter friert. Ist das ein gesetzmäßiger Verhaltens- und Gesinnungswandel bei den Propagandisten?

Antwort: Es ist ein Beispiel für Nietzsches These, dass der Zweck die Mittel heiligt. Augen, die vom Pseudogroßmacht-Getöse geblendet sind, sehen nur mehr das, was sie sehen wollen, und Ohren hören nur das, was sie hören wollen. Das Land ist riesig, und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebt in Armut, sie wird gar nicht wahrgenommen, die Menschen leben wie Leibeigene. Ich bin unlängst auf eine Aussage von Gabriel García Márquez gestoßen, der die Sowjetunion im Jahr 1961 besucht hatte, und der meinte, dass die Sowjetmenschen gar nicht wüssten, in welcher Armut sie eigentlich lebten. Seine Bücher wurden daraufhin übrigens umgehend verboten. Ein großer Fehler – sein “Herbst des Patriarchen” wäre auch für heutige Autoritaristen sehr lehrreich.

Für Putins Russland, ebenso wie für den gesamten sowjetischen Totalitarismus, stellt ein Menschenleben keinen Wert an sich dar. Menschen sind für sie nur Verbrauchsmaterial oder kleine Zahnräder im großen Staatsapparat. Das Ziel ist seit langem klar – das freiheitsliebende Volk der Ukraine mit allen Mitteln zum Schweigen zu bringen, damit andere nicht auf dumme Ideen kommen. Und sie sind bei der Wahl dieser Mittel nicht zimperlich. Deshalb ist das, was Sie beschrieben haben, leider nur eine natürliche Fortsetzung der üblichen inhumanen Politik. 

Es gibt einen Führer, und der hat seine Ideen (auch wenn diese völlig absurd sind). Und woher die Motivation dafür kommt, weiß nur er allein – oder aber nicht einmal er selbst. Aber getrieben von diesen Ideen ist er zu fast allem bereit, ohne Rücksicht auf Verluste, und er bedient sich dabei der traditionellen Instrumente eines jeden Ganoven – Gewalt, Erpressung, Einschüchterung. Und während er noch große Reden über die Leidenschaftlichkeit schwingt, übersieht er, dass ihm fast keine leidenschaftlichen Anhänger mehr Gefolgschaft leisten. Nur noch gewöhnliche Dienerschaft, die aber beileibe nicht dazu bereit ist, sich im Namen irgendeiner unverständlichen Idee selbst aufzuopfern.

Frage: Aber dieser Hass beschränkt sich ja nicht nur auf den Führer und die Propaganda. Anders gefragt – der einfache russische Arbeiter, der sich diese Propagandasendungen anschaut, fängt der auch an, Schadenfreude gegenüber dem einfachen Arbeiter in der Ukraine zu empfinden?

Antwort: Die Leute werden aufgehetzt. Ich bin jedes Mal verblüfft, was für eine große Zahl von Menschen unreflektiert auf diese Hetze anspricht. Außerdem besteht die Propaganda aus einer Unzahl von Mythologemen – zum Beispiel jenem, dass die Ukrainer so etwas wie Menschenfresser sind. Die Menschen verblöden durch diese Propaganda, da gibt es kein kritisches Denken mehr, da gibt es im Großen und Ganzen kein Reflektieren mehr.

Frage: Wir verfolgen den Krieg in der Ukraine heute in Echtzeit. Und wir sehen nicht nur die freudestrahlenden Gesichter der Menschen in den befreiten Städten und Dörfern, sondern auch die Granaten, die von den Drohnen in die feindlichen Schützengräben gefeuert werden. Wir sehen, wie Menschen erschossen und ohne Gerichtsverfahren hingerichtet werden, wir sehen die Folgen von Raketenangriffen. Wie sehr verändert uns diese ständige Präsenz der Bilder vom Krieg?

Antwort: Es verändert die Menschen sehr, sie verhärten vor unseren Augen. Wenn der Tod früher ein exklusives Ereignis war, ein einschneidendes Erlebnis und ein Schock, dann ist er heute allgegenwärtig. Aber der Mensch ist ein anpassungsfähiges Wesen, er gewöhnt sich an alles und schließt sich in seinen eigenen Kokon ein. Das ist diese Entmenschlichung, über die ich in letzter Zeit viel schreibe. 

Die amerikanische Gesellschaft zum Beispiel ist sehr auf das einzelne Subjekt ausgerichtet. Und worin äußert sich diese Subjektbezogenheit? Die Leute beginnen zu protestieren. Wir erinnern uns ja, wie der Vietnamkrieg geendet hat – eine riesige Zahl Amerikaner hat dagegen protestiert, ist auf die Straße gegangen, die Männer haben den Militärdienst verweigert. Im heutigen Russland ist derartiges nicht zu beobachten. Wir sehen nicht, dass die Leute gegen diesen Wahnsinn auftreten, der sich gerade abspielt. Klar, dieser Protest wird strafrechtlich verfolgt, aber wie kann man als normal denkender Mensch auf die Bombardierung der Energieinfrastruktur reagieren. Wie kann man darauf reagieren, dass die Alten und Kinder dem Erfrierungstod ausgesetzt werden?

Das ist doch eine ganz offensichtliche Verwandlung ins Unmenschliche, wenn diese Leute, die ihr Geld im Fernsehen verdienen, ganz ohne Skrupel zur Vernichtung jener Menschen aufrufen, die sie noch vor kurzem mit dem Anschluss an Russland beglücken wollten.

Frage: Das, was jene erlebt haben, die selbst im Krieg waren, kann man natürlich nicht mit den Erfahrungen vergleichen, die man als Beobachter macht, wenn man die Geschehnisse via Internet oder TV verfolgt. Aber: Gibt es psychische Folgen auch für jene, die den Krieg zwar vielleicht in Echtzeit, aber eben doch nur aus der Ferne verfolgt haben?

Antwort: Ich glaube nicht, dass Menschen, die auf den Krieg virtuell reagieren, ein posttraumatisches Syndrom entwickeln. Aber das Unglück kommt nach Russland, später, wenn die Leute aus dem Krieg heimkehren. Das wird Probleme geben. 

Menschen, die das Morden bloß virtuell erleben, sind in der Mehrheit trotzdem nicht dazu in der Lage, diese Barriere zu überwinden, um das Leben eines anderen Menschen anzugreifen. Aber wer als Kriegsteilnehmer diese Barriere bereits genommen hat, indem er real Menschen getötet hat, für den gibt es diese Hemmungen nicht mehr. Und wenn die fehlen, dann wird dieser Mensch sehr bald das Recht des Stärkeren gegenüber seinen Mitmenschen realisieren. Und der Gewöhnungseffekt aus dem Blut-Adrenalin wird nach einer Steigerung der Dosis verlangen. 

Wissen Sie, dass rund eine Million Menschen von diesem Krieg betroffen sind? Das ist keine unbedeutende kleine Gruppe, wie vielleicht in den Kriegen in Afghanistan oder Tschetschenien. Wir reden hier von einer Million Menschen, die den Geruch des Blutes wahrgenommen haben, die diese existenzielle Barriere genommen haben. Auf Russland wartet viel Leid. Und so traurig es ist – auch auf uns wartet viel Leid, wir sind ja Nachbarn und wir sind eng miteinander verbunden.

Facebook hat mich kürzlich an meine Teilnahme an einem Symposium in der Türkei erinnert, welches den Problemen der Kinder im Krieg gewidmet war, den Kindern, die Blut und Tod gesehen haben. Die Türken haben verstanden, welche Gefahren hier lauern. Am Symposium nahm sogar der Premierminister teil, der den Experten und unter anderen auch mir sehr aufmerksam zugehört hat. Unverzüglich wurden Regierungsbeschlüsse ausgearbeitet, die sich auf unsere Expertise stützten. Die Russen sollten sich also ein Beispiel an den Türken nehmen. Die Belarussen übrigens auch.

Frage: Es gibt die Ansicht, dass die modernen Technologien dabei helfen, Kriegsverbrechen aufzuklären. Dank dieser Technologien hat der Krieg deutlich an Anonymität verloren. Kann das einen Soldaten davon abhalten, Gräueltaten zu begehen, kann das übertriebene Grausamkeiten verhindern, die ja in jedem Krieg vorkommen?

Antwort: Es ist zweifellos so, dass jene, die noch einen Rest Menschlichkeit in sich tragen, davon eingebremst werden. Das sieht man nicht nur im Krieg, sondern auch beim Bullying unter Jugendlichen. Wenn das Risiko besteht, dass man im Netz beobachtet wird, dann hemmt das. Das ist offensichtlich. Ich glaube, das lässt sich im Wesentlichen auch auf Erwachsene übertragen. Je mehr also gezeigt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es einem nicht gelingen wird, mit seinen Taten unentdeckt zu bleiben, und bei jenen, die noch einen Rest Menschlichkeit bewahrt haben, wird das sicher eine gewisse Bremswirkung entfalten. 

Deshalb ist es so wichtig, auch für Journalisten, Unrecht aufzuzeigen, darüber zu berichten, einen Aufschrei auszulösen. Zu zeigen, dass das Vertuschen nicht funktioniert. Gerade haben wir den Urteilsspruch des Gerichts in Den Haag im Fall von Flug MH17 vernommen [drei Mal lebenslänglich für zwei Russen und einen Ukrainer wegen Mordes in 298 Fällen durch den Abschuss einer Boeing 777 der Malaysia Airlines am 17. Juli 2014 über der Ostukraine]. So viele Jahre sind vergangen, aber man hat sich zur Wahrheit durchgegraben, es gab ein Gerichtsverfahren. Und selbst, wenn sich die Schuldigen derzeit noch nicht dem Urteilsspruch unterwerfen müssen, wage ich zu behaupten, dass das eines Tages passieren wird. Auf ewig wird man sich dem nicht entziehen können.

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