Leben. Kämpfen. Siegen. Wie die russische Armee ihre Soldaten auf den Einsatz in der Ukraine vorbereitet. Teil 2/2

Ernst Trummer, 15.11.2022  

Dies ist die Fortsetzung unseres Beitrags vom 14.11.2022. Sie finden diesen hier.

Eine Kurzfassung der Teile 1 und 2 des Arikels ist am 23.11.2022 in der Printausgabe der Wiener Zeitung erschienen.

Der Vestnik Vojennowo Obrasovanija (zu Deutsch etwa “Der Militärausbildungs-Bote”) ist eine offizielle Publikationsreihe des russischen Verteidigungsministeriums. Als praktische Handreichung für den Überlebenskampf an der Front wurde eine Broschüre mit dem Titel “Ich lebe, ich kämpfe, ich siege” herausgegeben. Sie soll russische Rekruten auf ihren Einsatz in der Ukraine vorbereiten.

Weiter geht es in dem Ratgeber mit Empfehlungen der praktischen Art: Nagelneue Uniformen heben ihren Träger eher aus seiner Umgebung hervor, feindliche Scharfschützen könnten ihn für einen hochrangigen Kommandeur oder Elitesoldaten halten – keine gute Idee. Besser die neue Uniform vor Gebrauch ein paar Mal waschen und kräftig bürsten, sie wird dadurch nicht nur weicher und trägt sich angenehmer, sondern sie fällt in der Masse auch nicht mehr so auf. Generell gilt, wenn man unterwegs ist: nach Möglichkeit immer auf der Schattenseite gehen, nur zu zweit oder zu dritt mit reichlich Abstand zur nächsten Kleingruppe. Einmal unter Beschuss geraten, keine hektischen Bewegungen machen, ruhig bleiben, auf den Boden werfen und der intuitiven Reaktion widerstehen, in Gruppen Schutz zu suchen.

Und immer die Augen und Ohren auf. Gerade dieser Krieg stützt sich stark auf den Einsatz von Drohnen, aber auch zivile Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen und Straßen spielen eine große Rolle. Und bloß kein Smartphone nutzen, schon gar nicht sein eigenes. Dank GPS-Lokalisierung ist man bis auf wenige Meter genau zu orten. Der ukrainische Mobilfunkbetreiber erkennt die russische SIM-Karte und bekommt so neben der Telefonnummer noch zusätzlich Name und Anschrift des Anrufers, und schon können die Angehörigen zuhause Opfer von Drohanrufen oder Erpressungen werden. Und der Anrufer selbst macht sich und seine Kameraden zu einem leichten Ziel für feindlichen Artilleriebeschuss. 

Und was tun, wenn man auf Zivilisten stößt, die sich an Protest- oder Sabotageaktionen beteiligen? Meist seien diese Aktionen von den Kommandostellen der ukrainischen Streitkräfte oder des Inlandsgeheimdienstes gesteuert, und so könne man diese Protestteilnehmer oder Saboteure gemäß I. Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention von 1978 Absatz 45 als Kombattanten ansehen, die sich von regulären Soldaten nur dadurch unterscheiden, dass sie keine Uniformen oder Rangabzeichen tragen. Somit könne man diese festhalten und wie Kriegsgefangene behandeln, oder, wenn sie eine Gefahr für Leib und Leben darstellen, sogar das Feuer auf sie eröffnen und sie unschädlich machen. Nach Artikel 46 desselben Zusatzprotokolls seien Zivilisten, die Foto- oder Videoaufnahmen von russischen Positionen machten, als potenzielle Spione zu behandeln. Unter den Bedingungen des Krieges verlören sie damit den Anspruch, als Kriegsgefangene angesehen zu werden, „mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben… Aber – auf Unbewaffnete zu schießen, ist nicht unsere Art.“ Besser, man halte sie fest, kläre die näheren Umstände ihres Handelns und übergebe sie wie Kriegsgefangene an die zuständigen Organe. „Wichtig ist, schnell zu handeln, entschlossen und mit der unserem Volk wesenseigenen Aufmerksamkeit.“

Der nächste Abschnitt des Leitfadens befasst sich mit den Gefahren, die von den gängigsten Waffengattungen und deren Einsatzmöglichkeiten ausgehen: Artilleriebeschuss, Minen, Maschinengewehrfeuer, Scharfschützenangriffe. Die Autoren gehen kurz auf die Besonderheiten der einzelnen Waffensysteme ein und skizzieren die Möglichkeiten, wie man sich davor schützen kann. 

Danach folgt eine kleine theoretische Einführung zur Erhöhung der eigenen Treffsicherheit beim Einsatz von Schusswaffen, im Wesentlichen der beiden im Ukraine-Krieg hauptsächlich zum Einsatz kommenden Kalaschnikow-Typen: des leichteren AK-74 Kaliber 5,45 mm und des schwereren AKM Kaliber 7,62 mm. Auf diesen Seiten erweckt der Leitfaden den Eindruck, dass man mit den Ausführungen zumindest teilweise den oft eklatanten Mangel an kompetenten Ausbildern für die neu einberufenen Soldaten wettmachen will. Zu wenig hochwertige Ausrüstung und zu wenige qualifizierte Instruktoren – das sind die zwei Hauptkritikpunkte, die gegen die Mobilmachung immer wieder ins Treffen geführt wurden.

Nach einem weiteren Abschnitt, der rein praktischen Fragen zur Ausrüstung gewidmet ist – was kommt in den Rucksack, welche Unterwäsche empfiehlt sich, welches Schuhwerk, wieviel Wasser soll man mindestens trinken, welchen Stellenwert haben geregelte Mahlzeiten, wie beugt man Ungezieferbefall und Krankheiten vor und allerhand weiterem Wissenswerten aus dem kleinen und großen Pfadfinder-Einmaleins – kommen die Autoren gegen Ende der Broschüre wieder mehr auf ideologisch aufgeladene Themen zu sprechen. Den Auftakt macht das Thema Kriegsgefangenschaft.

Es gebe viele Gründe und Umstände, unter welchen man in Kriegsgefangenschaft geraten könne: verwundet, verirrt, den Anschluss an die eigenen Einheiten verloren, oder manchmal auch freiwillig ergeben – aber das seien dann schon Fälle für den Psychiater. Denn wer die Kriegsgefangenschaft als Möglichkeit ansehe, sein Leben vor dem Tod im Kampf zu retten, der irre sich gewaltig. Sich freiwillig zu ergeben – eine ganz schlechte Idee. Zur Untermauerung wird zuerst einmal die Statistik bemüht: Exakt 63,4% aller sowjetischen Kriegsgefangenen seien an Hunger, Krankheiten und Misshandlungen gestorben. Mehr als die Hälfte derer, die in afghanische Kriegsgefangenschaft geraten waren, kamen darin um. Und dann ganz explizit: „Die ukrainischen Kämpfer bereiten unseren Kriegsgefangenen die Hölle auf Erden.“ Hinter den bestialischen Grausamkeiten steckten ein ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl und die ewige Angst vor den Russen, wobei die Ukrainer da nicht weiter differenzierten: Tschetschenen, Tataren, Burjaten, Abchasen, Udmurten – alle seien sie Russen für die Ukrainer. Natürlich ist das keine zufällige Aufzählung, stellen doch gerade Vertreter dieser kleinen Volksgruppen überproportional viele Kombattanten in den Reihen der russischen Armee. Sie sollen also erst gar nicht auf die Idee kommen, sich im Fall des Falles darauf hinauszureden, dass sie in Wahrheit ja gar keine Russen seien. Damit die Abschreckung auch wirkt, greifen die Autoren zu drastischen Worten: „Einen wehrlosen Gefangenen zu erniedrigen, zu misshandeln, ihn zu kastrieren und zu töten, ist für unsere Feinde eine Art Selbstbestätigungsakt. Für uns aber verbieten sich solche Abscheulichkeiten. Wir quälen keine Gefangenen. Wenn sich der Feind ergibt, verschonen wir sein Leben – das ist gottgefällig und juristisch korrekt.“

Apropos gottgefällig: Der Beistand von oben spielt für die Autoren der Fibel eine ganz besondere Rolle, das Thema beschließt dann auch ihre Ausführungen. „Gott führt uns, Er ist unser General!“, zitiert die Broschüre ein Thema aus dem Buch „Die Wissenschaft vom Sieg“ von Alexander Suworow, Russlands legendärem Heerführer aus dem 18. Jahrhundert. Der aufrichtige Glaube an Gott, der Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen, darin sei das Geheimnis der Erfolge Suworows auf den Schlachtfeldern gelegen. In dieser Grundstimmung wird es schnell transzendental: „Die Erfahrung des Krieges ist eine Art Fegefeuer, indem wir dieses durchschreiten, reinigen wir die Seele und eignen uns den Glauben an. Und es ist Gottes Ratschluss, unsere Seelen aufzunehmen oder sie auf Erden zu belassen für eine Zukunft, die nur Er alleine kennt.“

Neben der höchsten geistigen Autorität wird zum Abschluss der Ausführungen schließlich auch noch die höchste weltliche Autorität im heutigen Russland bemüht, und mit einer nochmaligen Referenz an den Zweiten Weltkrieg schließt sich der Kreis: „Dass Russland und wir, seine Soldaten, heute auf der Seite des Guten kämpfen, davon zeugt der Umstand, dass Tausende Russen aller Nationalitäten und verschiedenster Glaubensrichtungen ohne Zwang, nur dem Ruf des Gewissens folgend die soldatischen Reihen füllen, um gegen das Böse zu kämpfen. So war es bisher nur einmal in der Geschichte, im Großen Vaterländischen Krieg, als unsere Großväter gegen den rasenden Faschismus kämpften. Heute stehen wir, Rechtgläubige und Moslems, Buddhisten und Anhänger von Schamanen, in Reih und Glied und fechten gegen den ukrainischen Nationalismus und den hinter ihm stehenden weltweiten Satanismus. Und vielleicht war es kein Scherz, als unser Präsident meinte, dass ‚wir als Märtyrer ins Paradies kommen, während sie einfach verrecken werden‘. Wahrscheinlich wusste Putin schon von etwas, worüber zu sprechen noch nicht die Zeit gekommen ist.“

Quelle:

https://vvo.ric.mil.ru/Rekomenduem

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Hier die Publikation in der Wiener Zeitung:

WZ_Leben-kämpfen-siegen

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