Nachrichten für Mit-Denker
Ernst Trummer, 18.5.2023
Der Artikel ist am 5.5.2023 in der „Wiener Zeitung“ erschienen
Die Bekenntnisse zweier ehemaliger Wagner-Söldner waren selbst den überzeugten Bellizisten in Moskaus Sicherheitskreisen zu viel. Offen und detailliert sprachen die beiden Aussteiger Asamat Uldarow und Alexej Sawitschew vor ein paar Tagen gegenüber der russischen NGO Gulagu.net über Folter und Mord, verübt an ukrainischen Kriegsgefangenen und Zivilisten sowie abtrünnigen Kämpfern aus den eigenen Reihen. Sogar vor der Exekution von Kindern schreckten die Söldner nicht zurück. Sawitschew wiederholte später seine Aussagen gegenüber dem britischen „Guardian“. Beide Männer sind mittlerweile untergetaucht, werden aber noch in Russland vermutet.
Präsident Wladimir Putin sah sich danach genötigt, Generaloberst Michail Misinzew, einen der Stellvertreter von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, in den Ruhestand zu versetzen. Ein herber Rückschlag für Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin – Misinzew war seit Russlands Syrien-Feldzug sein Verbindungsmann im Verteidigungsministerium. Der Militärblogger Semjon Pegow veröffentlichte kürzlich ein Interview mit Prigoschin, in dem dieser seinen Kumpel Misinzew als einen der Kuratoren des „Projekts K“ outete.
„Projekt K“ ist der Codename für die massenhafte Rekrutierung von Häftlingen für den Kampfeinsatz in den Reihen von Wagner. Ebenfalls in das Projekt involviert: General Sergej Surowikin, auch bekannt unter seinem zweifelhaften Nom de Guerre „General Armageddon“, den er durch seine besondere Skrupellosigkeit in den Feldzügen in Tschetschenien und Syrien erworben hat. Im Oktober war Surowikin noch zum Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte in der Ukraine befördert worden. Nur drei Monate später schob ihn Putin aufs Abstellgleis.
All das sind für Wladimir Osetschkin deutliche Anzeichen, dass die Tage der Söldnertruppe Wagner gezählt sind. Der Frontmann der NGO Gulagu.net gilt als einer der am besten vernetzten Menschenrechtsaktivisten Russlands. Seine Organisation verfügt über ein weit verzweigtes Netz an Informanten und Zuträgern, auch von innerhalb der staatlichen Strukturen.
Erst kürzlich wurden ihm brisante Vertragsdokumente aus dem russischen Verteidigungsministerium und der obersten Strafvollzugsbehörde FSIN zugespielt. Diese geben erstmals einen Einblick in die rechtlichen Grundlagen der Rekrutierung von Gefängnisinsassen für den Ukraine-Krieg. Die Papiere legen nahe, dass die Verpflichtungen der Häftlinge unter institutionellem Druck und mit falschen Versprechungen erfolgen.
Auch diese Leaks zeigen, dass Prigoschins Stern am Sinken ist. Die Dokumente betreffen die mittlerweile neu entstandenen Söldnertrupps des russischen Verteidigungsministeriums sowie des Energiegiganten Gazprom. Bisher traten diese paramilitärischen Formationen als PMC (Private Military Company) Redut, Fakel, Plamja oder Potok in Erscheinung. Wie die Hierarchien und gegenseitigen Beziehungen dieser Einheiten im Detail aussehen, ist derzeit noch weitgehend unbekannt.
Die Rolle von Wagner verliert so zunehmend an Bedeutung, auch wenn die täglichen Meldungen aus der Stadt Bachmut im Donbass das derzeit nicht vermuten lassen. Prigoschins Truppen liefern sich dort seit August eine verlustreiche Schlacht mit den ukrainischen Verteidigern, die das mittlerweile zur Geisterstadt zerbombte Bachmut unter keinen Umständen aufgeben wollen.
Aber seit dem Fall des nach Norwegen geflüchteten Wagner-Aussteigers Andrej Medwedew, der Ende Jänner brisantes Insider-Wissen über das brutale Regime der Söldnertruppe preisgab, ist Prigoschins Marktwert in Moskau deutlich gesunken. Medwedews schockierende Berichte über von Wagner verübte Gräueltaten, die durch die jüngsten Bekenntnisse von Uldarow und Sawitschew bestätigt wurden, haben laut Osetschkin letztlich dazu geführt, dass der Kreml weitere Rekrutierungen von Häftlingen durch Wagner untersagt hat.
Prigoschin, zuletzt zusätzlich irritiert von mehreren Hausdurchsuchungen bei Wagner-Heimkehrern, arbeitet fieberhaft an einer Imagekorrektur. So versuchte er unlängst mit einem eher unglaubwürdigen PR-Stunt über den angeblichen Kriegseinsatz des Sohnes von Kreml-Sprecher und Putin-Intimus Dmitri Peskow Pluspunkte bei Moskaus Oberen zu sammeln. Allerdings dürfte diese Aktion eher nach hinten losgegangen sein.
In dem besagten Video-Interview mit dem Militärblogger versuchte es Prigoschin deshalb zuletzt mit einem frontalen Gegenangriff. Erst teilte er wortreich gegen die vermeintlich inkompetenten Führungskader der regulären russischen Streitkräfte aus und beklagte die Intrigen der Ministerialen gegen ihn.
Dann deutete er kryptisch an, dass er über belastendes Material gegen hochrangige Funktionäre im Verteidigungsministerium verfüge. Und in der Pose des um seine tapferen Kämpfer besorgten Heerführers wiederholte er in seinem mit Kraftausdrücken gespickten Auftritt die bekannten Vorwürfe, seine Einheiten würden nicht ausreichend mit Nachschub versorgt. Sollte sich das nicht rasch ändern, sei er gezwungen, seine Truppen aus Bachmut abzuziehen. Eine Drohung, die er, wie wir seit heute früh wissen, nach dem 9. Mai, dem Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, wahrmachen will.
In Armee und Ministerium hat sich Prigoschin mit diesem Interview wohl keine neuen Freunde gemacht. Kommt es bald zum großen Showdown? Der Zeitpunkt wäre jedenfalls so kurz vor den Mai-Feierlichkeiten brisant. Osetschkin glaubt, Prigoschin werde man vergeblich unter den Ehrengästen auf den Zuschauertribünen auf dem Roten Platz suchen.
Quellen:
https://www.youtube.com/watch?v=_qTQ6vM3T3o
https://www.theguardian.com/world/2023/apr/18/wagner-mercenary-admits-tossing-grenades-at-injured-ukrainian-pows
https://spektr.co/ubijstvo-20-ukrainskih-detej-podryv-yamy-s-plennymi-rasstrely-grazhdanskih-zaklyuchennye-naemniki-vagnera-rasskazali-o-voennyh-prestupleniyah-gruppirovki/
https://vk.com/wall-159147160_12030?lang=en
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