Russland – ein Land der geduldigen Opfer. Wie Putin sich anschickt, den Krieg zu verlieren

Jurij Wischnewskij für die ukrainische Online-Tageszeitung DSNews – gekürzte Übersetzung Ernst Trummer, 17.11.2022

Quelle: https://www.dsnews.ua/politics/obshchestvo-terpil-kak-putin-sobiraetsya-proigrat-voynu-09112022-469156

Zu behaupten, Wladimir Putin bereite sich auf eine Niederlage vor, mag paradox erscheinen – zu sehr sind wir es gewohnt zu glauben, dass ein Misserfolg im Krieg gleichbedeutend mit dem Ende für den Herrn im Kreml wäre. Aber die Realität ist eine andere. Zum einen ist Putins Abhängigkeit von der Stimmung in Russland weniger stark, als seine Kontrolle über diese Stimmungslage. Denn die heutige russische Gesellschaft ist eine Gesellschaft der geduldigen Opfer, und Putin kann ihr sogar eine Niederlage als Sieg verkaufen. Und zum anderen hat der Kreml faktisch ja ohnehin schon damit begonnen, die Bevölkerung auf kommende Misserfolge an der Front vorzubereiten. Und schließlich, und das ist das Wichtigste: Putin überlegt derzeit, bei kleinen Dingen Zugeständnisse zu machen, um das Große zu behalten. Und genau das versucht er jetzt den Amerikanern und der EU zu verkaufen.  

Fangen wir mit der russischen Gesellschaft an. Umfragen von unabhängigen Meinungsforschungsinstituten zeigen merkliche Veränderungen in der Stimmungslage der Bevölkerung. Gemäß Daten des Instituts „Lewada-Zentrum“ sprachen sich im August 48% der Befragten für die Fortsetzung der Kampfhandlungen aus, 44% waren für die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Im September war es umgekehrt – 44% für die Fortsetzung des Kriegs, 48% für Friedensverhandlungen. Die Oktober-Umfrage zeigte einen noch deutlicheren Wandel – Friedensgespräche wurden jetzt von 57% der Umfrage-Teilnehmer begrüßt, während nur noch 36% für den Krieg waren.

Es wäre aber verfrüht, diese Zahlen als Beleg dafür anzusehen, dass die Russen plötzlich Friedensgefühle entwickelt hätten. Ganz und gar nicht – nach den Daten des Lewada-Zentrums bleibt die Zahl jener Russen, die den Krieg gegen die Ukraine grundsätzlich unterstützen nach wie vor sehr hoch: 76% im August, 72% im September, 73% im Oktober. Mit anderen Worten: Die Einstellung der Russen gegenüber den Ukrainern hat sich nicht geändert – drei Viertel von ihnen wollen sie vernichten.

Der merklich gestiegene Wunsch nach Verhandlungen ist nicht dadurch zu erklären, dass bei den Russen die Friedensliebe erwacht wäre (dem war und ist nicht so), sondern dadurch, dass die russischen Truppen sich schmählich aus dem Raum Charkiw zurückziehen mussten, weshalb sich Putin gezwungen sah, die Mobilmachung zu verkünden. Gleichzeitig hat die Kreml-Propaganda eine neue Platte aufgelegt, das Thema von den neuen Eroberungen ist merklich leiser geworden. Im Vordergrund steht jetzt das Thema „halten, was bereits erobert ist“. Die Annexion der vier Oblaste hat genau aus diesem Grund stattgefunden. Es geht jetzt nicht mehr darum, die ganze Ukraine zu erobern oder sie zur Kapitulation zu zwingen oder eine Marionettenregierung in Kiew zu installieren. Jetzt müssen die neuen Grenzen Russlands verteidigt werden. Und genau dafür braucht Putin, und mit ihm die Mehrheit der Russen, die Verhandlungen.

Es stellt sich hierbei natürlich die Frage, was war zuerst da – die Henne oder das Ei, also Putins Absichten oder die Wünsche der Russen? Dem lässt sich auf den Grund gehen. Das Institut Russian Field hat dazu eine Umfrage mit zwei Fragen durchgeführt: „Würden sie die Entscheidung Putins, einen neuerlichen Angriff auf Kiew zu starten, unterstützen?“, oder „würden sie die Entscheidung unterstützen, die Militäroperation zu beenden und ein Friedensabkommen zu unterzeichnen?“ Durch die Überschneidungen in den Antworten auf diese zwei Fragen können die Befragten in drei Gruppen eingeteilt werden: in eine „Partei des Krieges“ (jene, die einen Angriff auf Kiew befürworten und gegen die Unterzeichnung eines Friedensabkommens sind), eine Gruppe der „Konformisten“ (für all jene, die jede beliebige Entscheidung Putins mittragen), und in eine „Partei des Friedens“ (jene, die gegen einen Angriff und für ein Ende des Krieges sind). Ende Juli kam die „Partei des Krieges“ auf einen Anteil von 25%, innerhalb von zwei Monaten sank dieser auf 16% ab. Die „Partei des Friedens“ ist aber im selben Zeitraum weniger stark gewachsen – von 23% auf nur 27%. Größter Nutznießer der geänderten Ausgangslage war die Gruppe der „Konformisten“, ihr Anteil kletterte von 33% auf 39%.

Putin ist praktisch der Herr der Hirne seiner Russen. Sollte er unvermittelt doch einen neuen Angriff lancieren wollen, schreit die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung „Hurra!“. Will er plötzlich Frieden, wird ein großer Teil der Russen finden, dass es Zeit sei, den Krieg zu beenden. Und in beiden Szenarien wird Putin seine Entscheidung als Sieg verkaufen.

Um die internationale Nachrichtenlandschaft entsprechend zu bearbeiten, lässt die Kremlpropaganda neuerdings verlautbaren, dass man zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit sei. Ende September noch hatte Putin es zur Bedingung gemacht, dass der Status der kürzlich von Russland annektierten Gebiete bei allfälligen Friedensgesprächen nicht zur Disposition stehe. „Die Wahlentscheidung des Volkes in Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson wird nicht diskutiert. Sie ist endgültig. Russland wird das Volk nicht verraten“, verkündete er damals (wobei die Stadt Saporischschja noch immer unter Kontrolle der Ukraine steht).

Mittlerweile setzt der Kreml auf Flexibilität. „Von unserer Seite gibt es keine Vorbedingungen außer der einen grundsätzlichen Voraussetzung – dass die Ukraine ihren guten Willen zeige“, sagte der stellvertretende russische Außenminister Andrej Rudenko. Mit dieser Haltung will der Kreml die Verantwortung für die Fortführung des Krieges auf die Ukraine schieben. Die Frage ist nur, welche Zugeständnisse er den USA und Europa zu machen bereit ist.

Die Ankündigung der Bereitschaft zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen zeugt davon, dass der Kreml sich im Stadium des Tauschhandels befindet. Bisher konnte man annehmen, dass Russland die Verhandlungen nur sucht, um einen Waffenstillstand zu schließen. Dann könnte es seine Truppen neu u formieren und mit frischen Kräften erneut angreifen. Dieses Motiv hat man sowohl in Kiew als auch in den Hauptstädten im Westen allerdings gleich durchschaut. Jetzt aber will Moskau den Partnern der Ukraine ein vermeintlich deutlich attraktiveres Angebot machen – Putin sei bereit zum Kompromiss und man solle sich sehr gut überlegen: Will man weiter Hilfsleistungen in Form von Geld und Waffen für die Hoffnungen der Ukraine opfern, alle ihre Gebiete wieder zurückerobern zu können, oder will man nicht lieber ein Ende des Krieges jetzt und eine Rückgabe zumindest einiger Gebiete an Kiew?

Es gibt bekanntlich fünf Stadien der Reaktion auf neue Realitäten: Ignoranz, Zorn, Tauschhandel, Depression und schließlich Akzeptanz. Die Fähigkeit, auf dem Schlachtfeld zu siegen, welche die ukrainischen Truppen eindrücklich im September im Raum Charkiw unter Beweis gestellt haben, ist so eine neue Realität. Die Phase der Verleugnung dieser Tatsache äußerte sich in der russischen Mobilmachung als Reaktion auf diese neue Wendung. Die ukrainischen Streitkräfte haben sich von diesen Amateurrekruten aber nicht beeindrucken lassen, und Putin wechselte ins Stadium des Zorns, was sich in den aus militärischer Sicht sinnlosen Raketenschlägen gegen ukrainische Städte zeigte. Aber auch das hat die Ukrainer nicht wirklich beeindruckt, und Putin ist jetzt in der Phase des Tauschhandels angekommen.

Man kann davon ausgehen, dass er nun immer neue, noch verlockendere Angebote machen wird. Zuerst einmal wird er mit „Luft“ handeln – also sich dazu bereit erklären, die Stadt Saporischschja und andere Gebiete „abzutreten“, die ohnehin unter ukrainischer Kontrolle stehen, auch wenn Russland sie für sich reklamiert hat. Natürlich wird sich niemand auf solche Angebote einlassen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Putin schließlich „all-in“ geht und anbietet, seine Truppen auf die Linien vom 23. Februar zurückzuziehen. Oder er gibt sogar alles auf, außer die Krim.

Es besteht jedenfalls die Gefahr, dass einige Partner der Ukraine diesen Köder schlucken könnten. Hier ist die ukrainische Diplomatie gefordert, die jetzt in die Offensive gehen muss. Erstens einmal ist mit maximalem Nachdruck klarzustellen, dass man Putin nicht trauen kann. Wenn er etwas verspricht, kann man hundertprozentig sicher sein, dass er sich nicht daran halten wird. Es gibt eine lange Liste an Beispielen aus der Zeit vor dem 24. Februar, als man ihn noch für einen einigermaßen ehrlichen Staatsmann hielt. Spätestens seit diesem Datum ist aber endgültig klar, dass seine Versprechungen wertlos sind.

Gleichzeitig muss man trachten, Putin möglichst schnell ins vierte Stadium der möglichen Gemütszustände zu bringen – in die Depression. Da er auf derselben Wellenlänge mit seinem Volk ist, gilt das auch für die russische Bevölkerung insgesamt. Das beste Rezept dafür sind fortgesetzte Waffenlieferungen an die Ukraine, weitere Erfolge der ukrainischen Truppen auf dem Schlachtfeld und mehr „gute Russen“ in Gestalt von „Fracht 200“ [Codename der russischen Armee für gefallene Soldaten, mehr dazu s. hier].

Je tiefer diese Depression der Russen ausfällt, desto eher werden sie die neue Realität anerkennen. Eine Realität, in der Russland als Verlierer dasteht. Und ja – Putin wird seinem Volk auch diese Niederlage als Triumph verkaufen und ihm seine Depressionen wieder nehmen.

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