Nicht dein Ernst, oder? Streifzüge durchs staatliche russische Fernsehen, 12.11.22

Arsenij Vesnin für vot-tak.tv, frei übersetzt und kommentiert von Ernst Trummer 15.11.2022

Quelle: https://vot-tak.tv/novosti/12-11-2022-o-chem-molchit-tv/

 

„Wir brauchen dringend einen Stalin.“ Der Abzug der russischen Truppen aus Cherson ist zweifellos das wichtigste militärische Ereignis der letzten Monate. Seine Bedeutung ist deshalb so groß, weil er sich in eine Reihe von Niederlagen fügt, die Putins Armee bereits einstecken musste. Den Misserfolgen auf dem Schlachtfeld stehen die Misserfolge im Informationskrieg gegenüber – die Propagandisten wirken verloren. Sie können die offenkundigen Probleme nicht komplett ignorieren, können aber auch keine Auswege thematisieren. Immer öfter ist daher jetzt von Verrätern und Erschießungen die Rede.

Arsenij Vesnin analysiert Woche für Woche, worüber man im russischen Fernsehen spricht.

Cherson auf Ignore

Der Abzug der russischen Truppen aus der Stadt Cherson war das beherrschende Thema fast aller internationalen Medien. Einzig die russischen Fernsehkanäle haben darüber bis zuletzt nicht berichtet. Sogar nachdem sich bereits Verteidigungsminister Sergej Schoigu und General Sergej Surowikin offiziell dazu geäußert hatten, taten die Journalisten des russischen Fernsehens alles, um diese militärische Niederlage nur ja nicht thematisieren zu müssen. 

Auf „Rossija 1“ wurde zwar gleich berichtet, dass General Surowikin eine Rede gehalten habe – bloß, worum es dabei ging, verriet der Fernsehsprecher nicht. Es hieß nur wolkig, dass alles dafür getan werde, um die Leben der russischen Soldaten und der Zivilbevölkerung zu schützen. Über Cherson selbst kein Wort.

Die Nachrichten am Morgen nach der Räumung Chersons begannen mit einer Glückwunschadresse an die Mitglieder der Polizei und einem Bericht über die Wahlen in Amerika: „Heute begeht Russland den Tag der Mitarbeiter der Organe des Innenministeriums. Der Präsident übermittelte seine Glückwünsche. Ein Team von Militärärzten hat ein nicht explodiertes Projektil aus dem Körper eines Patienten entfernt. Das Projektil saß zwischen der Aorta und der unteren Hohlvene. Die Republikaner erzielten bei den Midterm-Wahlen nur einen Teilerfolg. Die Stimmauszählung ist noch im Gange.“

Im „Ersten Kanal“ bezeichnete man die Geschehnisse wieder einmal als eine „Umgruppierung der Truppen“: „Surowikin erstattete Verteidigungsminister Sergej Schoigu Bericht über die Lage in Cherson, und der Minister unterstützte den Beschluss, die Kräfte neu zu ordnen und eine Verteidigungsstellung am linken Dnepr-Ufer einzunehmen“, so die Fernsehsprecherin Jekaterina Andrejewa. Und mehr noch: Am Beginn der Nachrichtensendung hieß es sogar, die Lage in den Gebieten der militärischen Spezialoperation sei stabil, und die Feuerkraft der russischen Armee steige ständig.

Auf „NTV“ berichtete man am selben Abend über „einen neuen Beschluss der Militärführung“. Die Rede war von einer „alarmierenden Situation im Raum Cherson, welche rasche und nicht einfache Entscheidungen verlange, insbesondere zur Verlegung der russischen Einheiten.“ Die Moderatoren weiter: „Schoigu ist damit einverstanden und begrüßte den Vorschlag Surowikins.“

Genosse Stalin und die Erschießungen

Während die Nachrichtenredaktionen der Fernsehsender beschlossen haben, das Thema Cherson tunlichst zu vermeiden, konnten sich die Moderatoren der politischen Talkshows nicht zurückhalten. Im Studio von Wladimir Solowjow herrschte nach dem Abzug aus Cherson Trauerstimmung. Der Moderator gab aber sogleich die Sprachregelung aus, an die sich die Propagandisten bei der Behandlung dieses Themas halten werden: „Eine schwierige, aber notwendige Entscheidung. Nur ein tapferer Soldat kann so eine Entscheidung treffen.“ Gemeint war damit natürlich General Surowikin.

Um diesem mehr Gewicht zu verleihen, erinnerte Solowjow daran, wie einst Josef Stalin alle Empfehlungen, Verbände seiner Roten Armee rund um Kiew abzuziehen, ignorierte. Mehr als 600.000 Soldaten seien daraufhin eingekesselt worden. Solowjow kritisierte also zwar Stalin selbst, nicht jedoch dessen Methoden. Im Gegenteil, es hatte vergangene Woche sogar den Anschein, als hätte der Moderator einen hysterischen Anfall während seiner Live-Sendung, als er ganz im Sinne des großen Sowjetdiktators verlangte, die Verräter zu erschießen, die es in Cherson überhaupt so weit hatten kommen lassen. 

Die andere These, welche von der TV-Propaganda, wie zu erwarten, immer stärker betont wird, lautet, dass Russland niemals gegen die Ukraine alleine verlieren würde. Wenn man jetzt zurückweiche, dann nur wegen des Drucks der gesamten westlichen Welt, der ganzen NATO, so der Abgeordnete von „Einheitliches Russland“ Andrej Isajew.

Es kann übrigens schon vorkommen, dass im Fernsehen gesagt wird, Russland verliere den Krieg. Aber wenn einer der geladenen „Experten“ so argumentiert, versuchen die Moderatoren meist, das Thema schnell in eine andere Richtung zu drehen und die Verantwortung auf die Russen selbst zu schieben. So gesehen auf „NTV“, wo der Reporter meinte, das Problem bestehe darin, dass die Russen zu wenig verantwortungsvoll mit der Situation umgingen.

Was besonders auffällt ist, dass weder in den Nachrichten, noch in den Politmagazinen in den letzten Tagen der Name Wladimir Putin gefallen ist. Ganz offensichtlich hat es da eine entsprechende Anweisung an die Sendungsverantwortlichen gegeben, damit die TV-Konsumenten nur ja nicht den Präsidenten mit den Niederlagen in Zusammenhang bringen. Wie lange es den Sendern gelingen wird, das Bild von Putin dem Siegreichen aufrechtzuerhalten, bleibt abzuwarten.

Die hier wörtlich angeführten Zitate zu den erwähnten Fernsehauftritten sind im Originalartikel als Videoausschnitte eingebettet. Sie sind weder der Phantasie von Arsenij Vesnin noch dem Schalk in mir entsprungen…

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