Nachrichten für Mit-Denker
Ernst Trummer, 29.6.2023
Dieser Text ist in leicht adaptierter Form unter dem Titel „Zum Tag der russischen Sprache: Wenn Worte weh tun“ am 31.5.2023 in der Wochenschrift „Die Furche“ erschienen
Der Anlass hat für die Menschen in der Ukraine seine ursprüngliche Bedeutung längst verloren, aber das Thema spielt in den Köpfen noch eine gewisse Rolle, und sei es nur aus einer Abwehrhaltung heraus: Am 6. Juni beging Russland und das, was von der „Russischen Welt“ übrig geblieben ist, den Tag der russischen Sprache. Den Feiertag gibt es noch nicht lange, 2011 hat ihn der damalige Putin-Platzhalter im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, per Dekret in den amtlichen Kalender aufgenommen.
„Was die Österreicher von den Deutschen trennt, ist ihre gemeinsame Sprache“, so ein launiges Bonmot. Das gilt in abgewandelter Form auch für das Verhältnis zwischen Russen und Ukrainern, nur dass hier die Sprache der einen von den anderen nicht mehr als gemeinsam empfunden wird. Dabei war die russische Sprache bis vor gar nicht so langer Zeit noch die Lingua franca aller Sowjetbürger, während den einzelnen Nationalsprachen im riesigen Vielvölkerstaat oft nur die Domäne der Folklore vorbehalten blieb.
Das zeigte sich auch in den Biographien der betroffenen Menschen, vor allem im Osten und Süden der Ukraine, wo es traditionell große russische Sprachinseln gab. Der ukrainische Schriftsteller Volodymyr Rafeyenko beschrieb in einem Essay für das Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen die Wandlung des Stellenwerts von Sprache im ukrainisch-russischen Kulturraum am Beispiel seiner persönlichen Erfahrungen. So sei es für seine Eltern völlig normal gewesen, als Ukrainer russisch zu sprechen. Die von den Sowjets geförderte Russifizierung hatte dazu geführt, dass sozialer Aufstieg an die Kenntnis der russischen Sprache geknüpft war. Die Sprache Puschkins und Tolstois war die Sprache der Eliten und der Metropolen, aber den Menschen im Donbass war das Ukrainische nie fremd, so Rafeyenko, Jahrgang 1969. „Meinen ersten Hochschulabschluss habe ich in russischer Philologie gemacht. Ich habe das Studium im russischsprachigen Donezk absolviert, wo niemand jemals jemandem verboten hat, Russisch zu sprechen oder zu schreiben.“ Als Rafeyenko Anfang der neunziger Jahre zu schreiben begann, tat er das auf Russisch, seine Texte wurden in russischen Verlagen publiziert, seine ersten Literaturpreise wurden ihm in Moskau verliehen. „Mir wurde nie zum Vorwurf gemacht, dass ich kein Ukrainisch spreche. Als Sprache der interethnischen Kommunikation war das Russische in Donezk die allgemein verbreitete Sprache.“
Das änderte sich mit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991, mit der natürlich auch forcierte Emanzipationsbestrebungen in Sprache und Kultur einhergingen. Sie waren als Ausdruck der nationalen Selbstermächtigung zu verstehen, nicht als Ausschluss der russischen Sprache aus dem öffentlichen Leben. Spätestens nach der Krim-Annexion und der Ausrufung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk durch pro-russische paramilitärische Verbände im Frühjahr 2014 begann aber die Akzeptanz des Russischen zu bröckeln. Und mit der Invasion 2022 ist das einstmals friedliche und gleichberechtigte Miteinander der Kulturen endgültig einem disruptiven Bildersturm gewichen, der in der Demontage russischer Denkmäler auf den Plätzen ukrainischer Städte seinen plakativsten Ausdruck fand.
Umfragen belegen diesen Sinneswandel in der ukrainischen Bevölkerung: Das Kiewer Institut „Rating Group“ hat im vergangenen August eine Telefonumfrage unter 1000 repräsentativ ausgewählten erwachsenen Ukrainern in den nicht von den Russen besetzten Gebieten durchgeführt und dabei erhoben, dass bereits eine knappe Mehrheit von 51% auch zu Hause nur noch ukrainisch spricht. 13% sprechen daheim russisch, rund ein Drittel verwendet beide Sprachen. Mehr als die Hälfte der Bewohner im Süden und Osten der Ukraine sind zweisprachig, etwa ein Viertel ausschließlich russischsprachig. Interessant dabei: Rund jeder dritte Russischsprachige bezeichnet Ukrainisch als seine Muttersprache. Außerhalb des privaten Bereichs waren die Gewichtungen schon seit der Unabhängigkeitserklärung klar zugunsten der offiziellen Landessprache verteilt, seither hat die Zustimmung nur noch weiter zugenommen: 86% waren zuletzt der Ansicht, dass Ukrainisch die alleinige Amtssprache sein soll, für Russisch als zweite Amtssprache konnten sich nur noch 3% erwärmen. Die Befragung zeigte übrigens auch eine überwiegend positive (51%) bzw. neutrale (31%) Haltung der Ukrainer gegenüber ihren russischsprachigen Mitbürgern. Bemerkenswerterweise hat der Krieg diese Tendenz sogar noch verstärkt, denn im April 2021 hatten nur 37% eine positive Einstellung zu den Russischsprachigen im Land. Zusammen mit dem über die Zeit zunehmend negativen Bild, das die Ukrainer von den Menschen in den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk haben (April 2022: 31%, August 2022: 47%), ergibt sich der Eindruck, dass die Sprache gar nicht so eine zentrale Bedeutung für die Menschen hat. Was offensichtlich viel mehr zählt, ist die Einstellung zur ukrainischen Nation und ihrem Staatswesen.
Bis zum Krieg war Volodymyr Rafeyenko ein erfolgreicher russischsprachiger ukrainischer Schriftsteller. Für seinen Roman „Kurzes Buch der Abschiede“ erhielt er 2016 den Volodymyr-Korolenko-Preis für die beste ukrainische Prosa in russischer Sprache. Mit der immer prekärer werdenden Lage im russisch dominierten Donbass hat sich Rafeyenko schließlich bewusst der Herausforderung gestellt, so gut Ukrainisch zu erlernen, um darin auch schriftstellerisch tätig sein zu können. Mit „Mondegreen: Lieder vom Tod und der Liebe” legte er 2019 sein ukrainisches Erstlingswerk vor. Ein „Mondegreen“ ist das, was man landläufig einen „Verhörer“ nennt. Besonders anfällig dafür sind wir als Kinder, wenn wir fremdsprachige Texte hören. Der amerikanischen Autorin Sylvia Wright wurde die Ehre zuteil, diesem Phänomen einen klingenden Namen zu geben, nachdem sie in einer alten schottischen Ballade die Worte „And Lady Mondegreen“ anstelle von „And laid him on the green“ verstanden hatte.
Entwurzelung und Neuanfang, Transformation und Identität bilden das thematische Schwerefeld des Romans. Leitmotivisch vollzieht sich die Annäherung an diese Themen durch den beschwerlichen, aber lohnenden Aneignungsprozess von Sprache durch die Hauptfigur, einen Kriegsflüchtling aus dem Osten, der in der fremdartigen Metropole wieder Herr über sein Leben werden muss. Dem Autor Rafeyenko sind solche Erfahrungen selbst nicht fremd. 2019 meinte er noch, er wolle in Zukunft gerne weitere Werke auf Ukrainisch verfassen, nach dem russischen Überfall im Februar 2022 hat er sich nach eigenem Bekunden vollständig von der russischen Sprache losgesagt.
Die amerikanische Historikerin Marci Shore, Expertin für osteuropäische Kultur- und Geistesgeschichte, führte während der ersten beiden Monate nach Moskaus Invasion einen höchst anregenden Schriftverkehr mit Volodymyr Rafeyenko. Es hat etwas Anrührendes, in diesem Zwiegespräch, nachzulesen auf Project Syndicate, den Desillusionierunsprozess zweier russophiler Intellektueller quasi im Zeitraffer zu beobachten. Shore klammert sich immerhin noch an einen Strohhalm: Vielleicht kommt da eines Tages ein ukrainischer Dichter, der die russische Sprache von ihrem imperialistischen Fluch erlöst, so wie einst Paul Celan, der als Jude aus Czernowitz die deutsche Sprache nach Ausschwitz gerettet hat.
Rafeyenko weist diesen tröstlichen Ausblick von sich: „Ich glaube, die russische Poesie als kulturelles Medium ist von nichts anderem als sich selbst bedroht. Sie muss deshalb durch sich selbst gerettet werden, und niemand kann das tun, außer die Russen selbst. Wenn sie denn jemals aufwachen und in der Realität ankommen.“
Quellen:
https://www.iwm.at/publication/iwmpost-article/sprache-und-krieg
https://ratinggroup.ua/ru/research/ukraine/s_mnadcyate_zagalnonac_onalne_opituvannya_dentichn_st_patr_otizm_
c_nnost_17-18_serpnya_2022.html
https://www.project-syndicate.org/onpoint/ukraine-war-impact-on-russian-writer-by-volodymyr-rafeyenko-and-marci-shore-2022-06
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