Wenn Fliegen wieder zum Abenteuer wird

Ernst Trummer, 27.6.2023
Dieser Artikel ist in leicht adaptierter Fassung unter dem Titel „Fliegen ohne Sicherheitsnetz“ am 29.5.2023 in der „Wiener Zeitung“ erschienen

Die russische Zivilluftfahrt befindet sich in schweren Turbulenzen. Durch die Sanktionen können westliche Flugzeugmodelle nicht mehr fachgerecht gewartet werden. Heimische Ersatzprogramme verzögern sich.

Nach Einschätzung der russischen Verkehrsaufsichtsbehörde Rostransnadsor waren im vergangenen Jahr bei über 2000 Flügen, die mit westlichen Flugzeugtypen durchgeführt wurden, veraltete Ersatzteile im Einsatz. Das geht aus einem Bericht an den Verkehrsausschuss der Duma hervor. Das Moskauer Wirtschaftsblatt Kommersant zitiert den Chef der Aufsicht, Viktor Basargin, mit den Worten, es seien zahlreiche Fälle von Regelverstößen bekannt geworden, „die sich direkt auf die Flugsicherheit auswirkten.“ Eine entsprechende Rückfrage der Wiener Zeitung bei Rostransnadsor mit der Bitte um Präzisierung wurde von der Behörde nicht beantwortet.

Die russische Zivilluftfahrt, die Anfang Februar ihr hundertjähriges Bestehen feierte, war eine der ersten Branchen, die von den Sanktionen des Westens unmittelbar betroffen waren. Nicht nur wurden nach dem Überfall auf die Ukraine sämtliche Flughäfen sowie der Luftraum der EU für in Russland registrierte Flugzeuge gesperrt. Die EU hat außerdem den Export von Waren und Know-how sowie Versicherungs- und Serviceleistungen nach Russland verboten. Die USA, Kanada und Großbritannien reagierten ähnlich restriktiv.

Dass ein modernes Fluggerät nicht nur wegen des Fehlens von Hightech-Komponenten seine Flugtauglichkeit verlieren kann, zeigte sich kürzlich an einem recht banalen Vorfall mit der vielgepriesenen russischen Eigenmarke Superjet 100 des Herstellers Suchoi. Tatsächlich besteht die SSJ100, so die Typenbezeichnung des Jets, der vorwiegend bei Regionalfluglinien seinen Dienst verrichtet, zu rund 70% aus Fremdentwicklungen und Zukaufteilen aus dem Westen. Mitte März berichteten russische Medien von Problemen mit den Motoren der SSJ100. Grund waren fehlende Zündkerzen für das Triebwerk SaM146, einer Entwicklung des russisch-französischen Joint Ventures PowerJet. Wegen der Sanktionen waren diese Zündkerzen nicht mehr lieferbar, betroffen waren 160 Jets von insgesamt 12 Airlines. Bis Ende des laufenden Jahres soll jetzt eine russische Eigenentwicklung Abhilfe schaffen. 

Die Aeroflot hat nach eigenen Angaben ausschließlich Typen der Hersteller Airbus und Boeing in ihrer Flotte und ist mit 119 europäischen und 59 US-amerikanischen Jets Russlands größte Airline. Das Unternehmen verweist darauf, dass die Aeroflot-Gruppe, zu der auch die Fluggesellschaft Rossiya sowie der Billig-Carrier Pobeda gehören, „keine Flugzeugkomponenten mit abgelaufener Lebensdauer verwendet“. Wie man dem akuten Ersatzteilmangel vorbeugen kann, hat Pobeda bereits im letzten Frühjahr vorexerziert: So hat der Low-Coster kurzerhand 16 seiner 41 Boeings in den Hangar gestellt und nutzt sie seitdem als Ersatzteilspender für die noch im Dienst befindlichen Maschinen. 

„Die russischen Fluggesellschaften haben noch kein einziges Flugzeug aus ihren aktuellen Beständen vollständig zerlegt.“ Das vermeldete die Nachrichtenagentur RIA Nowosti am 15. März unter Verweis auf eine Stellungnahme von Verkehrsminister Vitalij Saweljew. Der entscheidende Kern dieser Aussage verbirgt sich vermutlich hinter dem Wörtchen „vollständig“.  Denn immerhin gibt es nach einem Bericht der Zeitung Iswestija einen Beschluss des Ministerrats von Ende Dezember, der die „Kannibalisierung von Flugzeugen“ ausdrücklich erlaubt. Außerdem sei es den Airlines seither freigestellt, Nachbauteile anstelle von Originalersatzteilen zu verwenden und die Serviceintervalle der Jets zu strecken.

Branchenprimus Aeroflot versucht es derweil mit der Instandhaltung seiner Fluggeräte im Ausland. Im April wurde nun erstmals eine A330-300 zum Service nach Teheran überstellt. Das meldete der Moskauer Wirtschaftsnachrichtendienst RBC. Der Iran hat wie kaum ein anderes Land Erfahrungen im Umgang mit Wirtschaftssanktionen. Laut RBC hat zuvor bereits der Regionalcarrier UVT Aero aus dem zentralrussischen Tatarstan einen seiner CRJ200-Jets aus dem Hause Bombardier bei den Ingenieuren von Mahan Air in Teheran servicieren lassen. Und die Aeroflot-Tochter Rossiya soll zumindest ein Triebwerk zur Wartung nach Teheran geschickt haben. 

Die Verwendung von veralteten Ersatzteilen oder Nachbauteilen durch russische Airlines sowie die Wartung von deren Flugzeugen im Iran wollte Airbus gegenüber der Wiener Zeitung nicht kommentieren. Wie Stefan Schaffrath, Konzernsprecher für den Bereich Commercial Aircraft allerdings mitteilte, führt Airbus bei allen Parteien, die Ersatzteile und technische Unterlagen anfordern, eine Due-Diligence-Prüfung durch und verpflichtet die Abnehmer zur Abgabe verbindlicher Endnutzer-Erklärungen. Darüber hinaus habe man jedoch keine Möglichkeit, die Verwendung von Nachbauteilen und die Erbringung von Dienstleistungen durch Dritte zu kontrollieren.

Die russische Regierung versucht seit Jahren, ihre Wirtschaft durch ein spezielles Importersatz-Programm autarker zu machen. Spätestens seit den Sanktionen infolge der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 sollten die Betriebe lernen, sich von ausländischen Lieferanten unabhängig zu machen. Die staatliche Holding Rostec, unter deren Dach die wichtigsten Unternehmen in den Sektoren Luftfahrt, Maschinenbau, Elektronik und Rüstung im Jahr 2007 zusammengeschlossen wurden, forciert derzeit ihr Vorzeigeprojekt SSJ NEW, eine Weiterentwicklung von Sukhois SSJ100. Der neue Flugzeugtyp soll – fast – zur Gänze ohne Komponenten aus dem Ausland auskommen, Rostec-Chef Sergej Tschemesow nannte eine angestrebte Importersatzquote von 97%. Herzstück ist das neuentwickelte Triebwerk PD-8 des russischen Motorenbauers ODK, der bisher den russischen Partner im Joint Venture PowerJet mit der französischen Safran-Gruppe stellte. Bis zu Moskaus Überfall auf die Ukraine hatte das Gemeinschaftsunternehmen die aktuellen Superjets mit den SaM146-Turbinen ausgestattet. 

Das PD-14, eine größere Version des PD-8, ist bereits Anfang April in Serienproduktion gegangenen. Die Turbine soll auf den ebenfalls neu entwickelten Maschinen des Typs MS-21 des Flugzeugbauers Irkut zum Einsatz kommen, der als Konkurrent der Mittelstrecken-Platzhirsche der Boeing 737-Familie und der Airbus A320/321-Familie konzipiert wurde. Bis zum Jahr 2030 sollen laut Rostec jährlich 160 PD-14-Triebwerke die Montagehallen in Perm, Europas östlichster Millionenstadt im Ural-Vorland verlassen. 

Bis dahin sollte es dann endlich auch mit der Serienproduktion der MS-21 klappen. Deren Auslieferung wurde in den letzten Jahren mehrfach verschoben, laut jüngstem Fahrplan sollen die ersten sechs Maschinen nun im nächsten Jahr abheben.  Für 2024 ist auch die Indienststellung der ersten 20 SSJ-NEW vorgesehen – wenn alles nach Plan läuft. Das Wirtschaftsblatt Kommersant zitiert Statements von Branchenkennern off the records, die den ewigen Ankündigungen nicht viel abgewinnen können und die SSJ NEW wie auch die MS-21 bis auf weiteres noch als Papierflieger betrachten.

Quellen:

https://www.kommersant.ru/doc/5987114

https://www.consilium.europa.eu/de/policies/sanctions/restrictive-measures-against-russia-over-ukraine/sanctions-against-russia-explained/#transport

https://www.rbc.ru/business/17/03/2023/6412e2879a7947737ee2be3e

https://www.aeroflot.ru/ru-ru/about/plane_park

https://avianity.ru/news/pobeda-sokrashhaet-aviapark-s-41-do-25-samoletov/

https://ria.ru/20230315/aviakompanii-1857992611.html?in=t

https://iz.ru/1454090/anastasiia-lvova-maksim-talavrinov/zapadnye-chasti-v-rossii-uzakonili-kannibalizatciiu-samoletov

https://www.rbc.ru/business/10/04/2023/6433e50f9a794734270374a3

https://www.kommersant.ru/doc/5260564

https://t.me/rostecru/5558

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