Zarendämmerung im Kreml

Ernst Trummer, 11.9.2022  

Jüngste lokale Ereignisse in Moskau und St. Petersburg legen erste kleine Risse in der rigiden Politstruktur des russischen Staatsapparats offen. Gepaart mit den neuerdings erfolgreichen Offensivbemühungen der ukrainischen Streitkräfte könnte sich daraus eine für Kremlherrscher Wladimir Putin äußerst unangenehme Dynamik ergeben.

Vor ein paar Tagen machte eine kleine Petersburger Kommunalverwaltung mit einer bis dahin für völlig undenkbar gehaltenen Initiative auf sich aufmerksam: Ein von mehreren Deputierten des Bezirks „Smolninskoje“ schriftlich eingebrachter Antrag an die russische Staatsduma verlangte nichts weniger als die Absetzung von Präsident Wladimir Putin wegen Hochverrats. Begründet wurde der Vorstoß mit dem völligen Scheitern der sogenannten militärischen Spezialoperation in der Ukraine, die letztlich das Gegenteil dessen bewirkt habe, was Putin vor dem Überfall auf die Ukraine als Motive für seine Entscheidung vorgebracht hatte: statt der Eindämmung der vermeintlichen Expansionsbestrebungen der NATO gebe es mit Schweden und Finnland nun zwei neue Mitglieder des westlichen Militärbündnisses. Durch den Beitritt Finnlands habe sich zudem die direkte Grenze Russlands mit der NATO sogar mehr als verdoppelt. Und dank der massiven westlichen Unterstützung in Form von militärischer Ausrüstung und Technologie im Wert von 38 Milliarden Dollar – mehr als das jährliche Verteidigungsbudget Kanadas oder Polens, wie es in dem Antrag heißt – gebe es statt der postulierten Entmilitarisierung der Ukraine nun sogar die reale Gefahr einer direkten militärischen Bedrohung Russlands durch seinen Nachbarn. 

Dazu gesellen sich noch die Vorwürfe der fahrlässigen Vernichtung von ganzen Einheiten der russischen Armee sowie der Schwächung der heimischen Wirtschaft durch den Rückzug vieler westlicher Marktteilnehmer und den massiven Brain Drain durch die Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte. All das rechtfertige nach Ansicht der beiden Proponenten des Antrags, Dmitrij Paljuga und Nikita Juferew, die beide auch durchaus die Öffentlichkeit via Social Media suchen (@dmitry_palyuga und @NikitaYuferev), die Absetzung Putins.

In der breiten Medienöffentlichkeit ist dieser Vorstoß natürlich gar nicht erst angekommen. Und noch bevor die völlig überraschten Kommentatoren und Blogger in den oppositionellen Medien zu einer Entscheidung darüber kommen konnten, ob es sich bei dieser Initiative um eine selbstmörderische Kamikaze-Aktion handle oder schlicht „Fake“ sei, platzte eine ähnliche Bombe in Moskau selbst.

Dort haben einige Deputierte des Bezirks „Lomonosowskij“ nur einen Tag nach dem Vorstoß der Petersburger Kollegen einen Appell an Wladimir Putin veröffentlicht, sein Amt als Präsident der Russischen Föderation zurückzulegen. Die Moskauer Deputierten argumentieren interessanterweise nicht mit den Misserfolgen der Militäroperation, sondern mit den Fehlentwicklungen der russischen Politik insgesamt, indem sie darauf hinweisen, wie ganz konkrete Zielsetzungen Putins verfehlt wurden: die versprochene Verdoppelung des BIP sei nicht erreicht, der Mindestlohn nicht wie angekündigt erhöht worden, gut ausgebildete Arbeitskräfte würden massenhaft auswandern. Insgesamt sei man wieder in die Zeit des Kalten Krieges zurückgeworfen und die Welt fürchte sich wieder einmal vor Russland und seinen Atomwaffen.

In einem Land, dessen Institutionen seit Jahren nur noch der Machterhaltung Putins verpflichtet sind, ist natürlich nicht zu erwarten, dass die beiden Initiativen eine große Wirkung entfalten werden. Außerdem gibt es begründeten Anlass zur Sorge, dass diese mutigen Abgeordneten bald Bekanntschaft mit den russischen Strafverfolgungsbehörden machen werden. Aber die Autoren dürften ein gutes Gespür dafür haben, dass sich in der trägen russischen Gesellschaft langsam doch erster Unmut zu regen beginnt. So bleibt abzuwarten, ob vor allem der Appell der Moskauer Deputierten zum freiwilligen Machtverzicht Putins doch eine zumindest bescheidene Resonanz erfährt. Tatsache ist, dass nun langsam auch die Menschen in den Metropolen Moskau und St. Petersburg die Auswirkungen der westlichen Sanktionen zu spüren beginnen. Und konkrete Kritik an verfehlter Wirtschafts- und Sozialpolitik kann der Kreml nicht so leicht wegwischen, wie vermeintliche „Fake News“ gegen die Militäroperation in der Ukraine.

Mit Versuchen, gegen den Krieg zu argumentieren, tun sich oppositionelle Stimmen nämlich wesentlich schwerer, nicht nur wegen der absurd hohen Strafandrohung von bis zu 15 Jahren Haft, die auf den neu geschaffenen Tatbestand der „Diskreditierung der russischen Armee“ stehen.

Der Krieg in der Ukraine findet für die russische Bevölkerung bisher nur im Fernsehen statt, und solange Putin – aus gutem Grund – vor einer allgemeinen Mobilmachung zurückschreckt, wird sich für die große Masse daran auch nichts ändern. Der Hurra-Patriotismus, auf den sich die staatliche Propaganda einerseits stützt und den sie andererseits ständig befeuert, ist für den Kreml erst einmal sehr billig zu haben. Die Kehrseite ist allerdings, dass die permanente Hysterie in den russischen TV-Sendern die Zuseher mit der Zeit abstumpft und gleichzeitig viel zu hohe Erwartungen schürt. Wenn in dieser Situation dann auch noch die Militäroperation ins Stocken gerät, und der Feind nicht zuletzt dank der nicht versiegenden Unterstützung aus dem Westen langsam aber sicher die Initiative auf dem Schlachtfeld an sich reißt, ist Feuer auf dem Dach. 

So fordern neuerdings Propagandisten wie die berühmt-berüchtigte Fernsehmoderatorin Olga Skabejewa, man solle unfähige Kommandanten, deren Unvermögen die Militäroperation konterkariere, zur Rechenschaft ziehen, schließlich habe schon Stalin im II. Weltkrieg seine Generäle standrechtlich erschießen lassen, wenn die gewünschten Erfolge ausgeblieben seien. Andere Scharfmacher gehen noch weiter und verlangen Konsequenzen an noch höherer Stelle. So tut sich etwa Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow regelmäßig mit Kritik an Verteidigungsminister Sergej Schojgu und Generalstabschef Walerij Gerasimow hervor. Und der von der Ukraine als Kriegsverbrecher gesuchte Ex-Separatistenführer Igor Girkin hat schon vor einiger Zeit das Tabu gebrochen, Putin höchstselbst zu kritisieren. Jüngst verstieg er sich in seinem Videoblog dazu, über die Auslieferung des Kremlchefs an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu spekulieren. 

Die Tatsache, dass Girkin sich bis heute bester Gesundheit erfreut, lässt nur den einen Schluss zu, dass starke Kräfte ihre schützende Hand über ihn halten. Und genau dieses ultranationalistische Lager, dem diese Kräfte zuzuordnen sind, wird für Wladimir Putin immer mehr zu einem Problem für seine Kriegsstrategie. Denn je mehr Gewicht diese Stimmen in der russischen Öffentlichkeit bekommen, desto höher wird der Druck in Richtung einer weiteren militärischen Eskalation, vor der Putin trotz der zahlreichen Drohungen, die er der Ukraine und den „unfreundlichen Staaten“ von seinen Vasallen ausrichten ließ, letztendlich immer zurückschreckte (wann hat eigentlich Dmitrij Medwedjew zuletzt mit einem Atomangriff gedroht?).

Der russische Kremlkritiker Andrej Piontkowskij hat nach dem Mordanschlag auf Darja Dugina einem Blogger gegenüber die These vertreten, dass das Attentat vom russischen Geheimdienst inszeniert wurde, um ihrem Vater, dem Ultranationalisten Aleksandr Dugin, eine klare Botschaft zu vermitteln – er solle es mit der Scharfmacherei nicht übertreiben. 

Belege für diese These gibt es freilich (noch) keine, aber sie zeigt sehr schön, wie Putin, der von fehlgeleiteten Rechten wie Linken im Westen oft als „Meisterstratege“ gefeiert wurde, mittlerweile selbst Gefahr läuft, immer mehr zum Getriebenen seiner Spezialoperation zu werden. 

Einen seiner in letzter Zeit selten gewordenen öffentlichen Auftritte hatte Putin in Wladiwostok anlässlich des dortigen „Östlichen Wirtschaftsforums“. Seine Botschaft an die Adresse aller Kritiker der Militärintervention in der Ukraine lautete, Russland habe keine kriegerischen Handlungen begonnen, sondern versuche nur, diese zu beenden. Am Vorabend des 24. Februar dieses Jahres klang das noch ganz anders.

Quelle:

twitter: @dmitry_palyuga, @NikitaYuferev

Der folgende Text erschien am 8. September, wenige Tage vor einer ganzen Reihe von Wahlgängen auf verschiedenen lokalen Ebenen in ganz Russland

Appell der Deputierten an den Präsidenten Russlands W.W. Putin

Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch!

Es stehen Wahlen an, und in ein paar Tagen wird sich die Zusammensetzung unseres Deputiertenrates ändern. Wir haben unser Mandat fünf Jahre lang ausgeübt, und jetzt ist es an der Zeit, Platz zu machen für neue Leute mit frischen Ideen und Kräften.

Untersuchungen zeigen, dass in Ländern mit regelmäßigen Machtwechseln die Menschen durchschnittlich besser und länger leben als dort, wo der Führer nur mit den Füßen voraus seinen Posten verlässt. [Das Sprachbild ist eine Anspielung auf den Umstand, dass viele Autokraten erst auf der Bahre aus Ihren Ämtern scheiden]. Sie hatten gute Reformen während der ersten und teilweise während der zweiten Amtszeit, aber danach ging es irgendwie drunter und drüber: die Verdoppelung des BIP kam nicht, der Mindestlohn wuchs nicht in dem angekündigten Ausmaß, kluge und arbeitsfähige Menschen wandern in Massen aus Russland aus, von der versprochenen Stabilität ist keine Spur.

Die Rhetorik, die Sie und Ihre Untergebenen verwenden, ist seit langem geprägt von Ungeduld und Aggressivität, was letztendlich unser Land in die Epoche des Kalten Krieges zurückgeworfen hat. Man beginnt wieder Russland zu fürchten und zu hassen, erneut bedrohen wir die Welt mit unseren Atomwaffen.

Im Zusammenhang mit dem oben Dargelegten ersuchen wir Sie: lassen Sie ab von Ihrem Amt, Ihre Ansichten und Ihre Art zu regieren sind hoffnungslos veraltet und behindern die Entwicklung Russlands und des Potenzials seiner Menschen.

Quelle:

https://molomonosovskiy.ru/news/2022/09/08/3272/
(Anmerkung v. 24.10.2022: mittlerweile existiert diese Seite auf dem Server des Bezirksamtes nicht mehr – Error 404…)

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